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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Während Mr. Barclay mir zu jedem Kupferkessel oder Holzbottich den Anschaffungswert oder das Fassungsvermögen nannte und mir bei der Hitze der Schweiß in den Nacken lief, schaute ich zu der schmalen Gitterstiege, die vom östlichen Ende des Brauhauses zur angrenzenden Anchor Terrace führte. Allein beim Anblick dieser Wendeltreppe wurde mir schwindelig, und ich verfluchte Mr. Barclay, dass er mich nicht den Aufzug hatte nehmen lassen, der direkt vom Hof zu den Maissilos unter dem Dach führte.
    »Dort drüben wird dein Büro sein«, sagte er, als wir oben angekommen waren und den Übergang zum Nebengebäude betraten. »Direkt unter eurer Wohnung. Nur eine Treppe tiefer. Du brauchst das Haus gar nicht …«
    »… zu verlassen«, wollte ich den Satz bereits vervollständigen, als wir durch eine aufgeregte Stimme unterbrochen wurden.
    »Mr. Barclay, Sir!«, rief ein Arbeiter im blauen Drillich hinter uns. »Entschuldigung, Sir!« Er verneigte sich umständlich, wischte sich mit den Händen über die Schürze und sagte, mit Blick auf seine dreckigen Schuhe: »Mr. Anderson schickt mich, Sir. Es gibt Ärger am Tor. Soll ich sagen.« Er überlegte kurz und schob dann nach: »Sir!«
    »Ärger?«, fragte Mr. Barclay. »Sind es die Sozialisten?«
    »Nein, Sir«, antwortete der Mann verlegen. »Nicht direkt.«
    »Sondern?«
    »Sänger.«
    »Sänger?«
    »Ja, Sir! Sie blockieren den Eingang und singen. Mr. Anderson lässt fragen, was er unternehmen soll.«
    »Ich kümmere mich selbst darum«, antwortete Mr. Barclay.
    Diesmal nahmen wir den Aufzug, und nur etwa eine Minute später standen wir am Portal und sahen, was der Arbeiter gemeint hatte. Eine Gruppe von einigen dutzend uniformierten Heilsarmisten hatte sich direkt vor dem Eingang aufgebaut, schmetterte eine christliche Hymne und sorgte ganz nebenbei für einen beiderseitigen Stau in der Zufahrt zur Brauerei.
    »I have sinned, O God, my Savior«, schallte es uns entgegen.
    »Ausgerechnet!«, raunte mir Mr. Barclay zu. »Ein Bierkutscher hat gestern gerüchteweise von Protesten und Kundgebungen gehört. Aber dass es sich dabei um die Heilsarmee handelte, hat er offenbar nicht gewusst.«
    »Was ist an der Heilsarmee so besonders?«, wunderte ich mich und hielt nach bekannten Gesichtern unter den Salutisten Ausschau. »Die Leute sind doch harmlos.«
    »Das ist ja das Schlimme! Sie sind allesamt so fürchterlich wohltätige und anständige Christen«, antwortete Mr. Barclay und verdrehte die Augen. »Wenn man die von der Polizei verscheuchen oder einsperren lässt, gibt das nur böses Blut und schlechte Presse. Darauf legen sie es nämlich an. Damit man anschließend als Übeltäter und Satan dasteht. Scheinheilige Bande!«
    Bei der Erwähnung des Satans musste ich an Eva Booth denken, doch der Captain war nicht unter den Heilsarmisten. Als Tochter des Generals trat sie vermutlich nur bei bedeutenden oder besonders brisanten Anlässen auf. Die Blockade einer Brauerei zählte offensichtlich nicht dazu.
    »Ah, da ist ja Mr. Anderson«, sagte Mr. Barclay und deutete auf einen unscheinbar gekleideten Mann mit buschigem Backenbart, der wild gestikulierend vor den Heilsarmisten stand und gegen den lautstarken Gesang auf sie einredete. »Er ist einer unserer Bürovorsteher und wird dich in alles einweisen, wenn du bei uns anfängst. Du kannst bestimmt viel von ihm lernen.«
    »Bestimmt«, antwortete ich zögerlich.
    Mr. Anderson kam auf Mr. Barclays Handzeichen hin zu uns, verneigte sich tief vor ihm und mir und hob bedauernd die Achseln. »Sie lassen sich nicht von der Stelle bewegen, Sir, bevor sie nicht die Gelegenheit hatten, mit Ihnen zu sprechen. Andernfalls, so soll ich Ihnen sagen, werden sie weitersingen und den Weg blockieren, bis wir sie mit Polizeigewalt wegschaffen lassen.«
    »Das könnte ihnen so passen«, antwortete Mr. Barclay und deutete auf zwei schlicht, aber akkurat gekleidete Männer, die mit schräg sitzenden Bowlern und gezückten Notizbüchern am Rande der Versammlung standen und alles mit Argusaugen beobachteten. »Damit wir morgen im Star lesen können, wie wir die armen Christenmenschen misshandelt haben? Nein danke! Dann rede ich lieber mit den Leuten und höre mir den Sermon an. Kommst du, Rupert?«
    »Precious Jesus came to save us, friend of sinners, Jesus came!« Die Salutisten beendeten gerade ihr Lied und wollten bereits mit dem nächsten beginnen, als der Anführer der Gruppe, ein älterer Herr mit grau meliertem Bart, den

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