Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
einigen ihrer verschämten Andeutungen und aus abfälligen Bemerkungen ihres Onkels hatte ich herausgehört, dass Meredith zuvor einem entfernten Familienmitglied der Barclays durchaus zugetan gewesen war. Dieser junge Kerl namens Frederick – ein Cousin zweiten Grades und Abkömmling eines schwarzen Schafes der Familie, wenn ich es recht verstanden hatte – schien jedoch als Taugenichts und Schwerenöter verschrien zu sein. Was Mr. Barclay veranlasst hatte, sich nach ehelichen Alternativen umzuschauen. Und dummerweise hatte er sich im Zuge dieser Bemühungen an seinen alten Geschäftspartner Harvey Ingram erinnert.
Zwar hatte Vater inzwischen keine direkten geschäftlichen Verbindungen mehr zur Brauerei – abgesehen davon, dass das Hatchett’s und auch das Crown Hotel ihr Bier aus Southwark bezogen –, aber früher hatten ihm auch zwei Kneipen an der Borough High Street in Southwark gehört. Da der Gewinn aus diesen Pubs bescheiden, das Hotelierfach weitaus lukrativer und das Angebot der Barclay Brauerei großzügig gewesen war, hatte Vater vor einigen Jahren die Kneipen samt Pächter an Robert Barclay verkauft und das Geld in ein Gebäude in der Dover Street investiert, aus dem dann das Crown Hotel wurde. Bei den Lokalen, die früher einmal meinem Vater gehört hatten, handelte es sich um das Black Cross und das George Inn. Beides nicht gerade die feinsten Adressen in London.
»Da sind wir!«, rief Mr. Barclay sichtlich erfreut. Der Anblick seiner Brauerei erfüllte ihn mit einem fast kindlichen Stolz. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals so zufrieden auf seinem Landsitz in Bury Hill gesehen zu haben. Und ich bezweifelte, dass die Vorstellung, sich irgendwann im beschaulichen Surrey zur Ruhe zu setzen, ihn wirklich beglückte.
Die Kutsche bog links in die Park Street ab, die einst Deadman’s Place geheißen hatte, wie Mr. Barclay mir bei einem früheren Besuch augenzwinkernd erklärt hatte. Angeblich rührte der seltsame Name daher, dass hier zur Zeit der Großen Pest die unzähligen Toten in riesigen Massengräbern verscharrt worden waren. Wenn man bedachte, dass sich der Brunnen der Brauerei auf dem Firmengelände befand, konnte einem der Appetit auf das mit diesem Wasser gebraute Bier vergehen.
Vor dem Haupteingang zur Brauerei hatte sich eine Gruppe von Menschen versammelt. Es handelte sich jedoch nicht um Teilnehmer der angekündigten Protestkundgebung, sondern um ausländische Touristen, die eine Führung gebucht hatten und auf Einlass warteten. Die Idee, ihre Brauerei für zahlende Gäste zu öffnen und entsprechend umbauen zu lassen, zeugte vom tüchtigen Geschäftssinn der Barclays. Sogar der Prinz von Wales, der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck und der italienische Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi hatten laut Mr. Barclay schon einmal die Brauerei in Southwark besichtigt.
Während wir durch das große Portal fuhren und dabei abfahrende Bierkutscher und anliefernde Getreidebauern passierten, fielen mir erneut die ungeheuren Ausmaße des Firmengeländes auf. Eine Vielzahl unterschiedlichster Gebäude und Silos umringten mehrere Höfe. Besonders beeindruckend neben den riesigen Lagertanks waren die Förderbänder, die in schwindelerregender Höhe manche der Gebäude miteinander verbanden. Einige dieser Bänder, die man »Jakobsleitern« nannte, hatten Eimer an der Unterseite befestigt, die völlig automatisch gefüllt und geleert wurden und in denen das Malz oder die Gerste von einem Ort zum nächsten befördert wurde. Um zur Rückseite von Anchor Terrace zu gelangen, führte mich Mr. Barclay mitten durch das gewaltige Brauhaus, obwohl es auch einen Weg über den Hof gegeben hätte. Entweder gefiel es ihm, dass sämtliche Arbeiter und Büroangestellten, denen wir begegneten, einen Bückling vor ihm machten, oder er wollte mir zum wiederholten Male anerkennende Worte über das Herzstück seiner Brauerei entlocken. Fünf vollständige und unabhängig zu befüllende Brauanlagen befanden sich in diesem Brauhaus, das über zweihundert Fuß lang und an die sechzig Fuß breit war. Ich kam mir vor wie in einer überdimensionierten Hexenküche, überall zischte und brodelte es. Kupferne Braukessel und Sudpfannen, hölzerne Gärbottiche und Maischtonnen, Wasserzisternen und Malzsilos waren durch Fallrohre, Kupferleitungen und Jakobsleitern verbunden. Das gesamte Brauhaus wirkte wie ein mechanischer Organismus, der von einem eigenen Dampfkraftwerk im Nachbarhaus angetrieben wurde.
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