Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
eigenes Leben zu retten. Nein! Weil er seine eigenen Gefährten ans Messer geliefert hat, um selbst freizukommen. Zeuge der Krone. Wohlklingende Worte für eine hässliche Angelegenheit. Die Aussage ihres Vaters hatte den anderen beiden Seemännern das Todesurteil beschert und sie um ein Haar an den Galgen gebracht. Und laut wiederholte sie: »Ein feiger Verräter!«
»So harsch würde ich es nicht ausdrücken«, sagte der Buchhändler und schien sich über Celias plötzlichen Eifer zu wundern. »Schließlich haben der Kapitän und der Maat die Tat vor Gericht gar nicht geleugnet, wie es hier heißt. Sie haben alles ausführlich und wahrheitsgemäß geschildert und waren offensichtlich davon überzeugt, dass sie rechtens gehandelt hatten. Muss für die Männer ein Schock gewesen sein, als sie später zum Tode verurteilt wurden.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Celia. »Warum …?« Sie konnte ihre Frage nicht in Worte fassen.
»Warum die Anklage einen Zeugen brauchte, wenn es ein Geständnis gab?«, half der Buchhändler und hob die Achseln. »Um ein Exempel zu statuieren. Es ging der Krone allein darum, dem Brauch des Meeres Einhalt zu gebieten.«
Celia schaute ihn nur fragend an.
»Kannibalismus nach einem Schiffbruch«, erklärte der Mann. »Ein ungeschriebenes Gesetz der Seefahrt. Deswegen mussten die Seeleute verurteilt werden. Als warnendes Exempel. Und zwei Männer nur aufgrund ihrer eigenen Aussage hinzurichten, wäre vermutlich für einen Präzedenzfall nicht ausreichend gewesen. Außerdem hätten sie ja bei einer späteren Verhandlung einfach schweigen können, das dürfen die Angeklagten nämlich, und dann wäre der Prozess hinfällig gewesen. Deshalb brauchten sie einen unbeteiligten Zeugen.«
»Unbeteiligt?«, rief Celia aufgebracht. »Vater war nicht unbeteiligt.«
»Vater?«, fragte der alte Mann irritiert.
»Mr. Brooks.« So hatte die Mutter ihren Mann immer genannt. Nie Ned. Nie Vater. Nur Mr. Brooks. Celia dachte an die Erleichterung ihrer Mutter, als der Walfänger Hutchinson die Nachricht von der Begnadigung der Kannibalen überbracht hatte. In der Nacht vor dem ersten Austernfang ihrer Brüder.
Ein lautes Klopfen an der Schaufensterscheibe ließ sie heftig zusammenfahren. Auch der Buchhändler erschrak und klappte wie automatisch den Folianten zu. Als Celia nach draußen blickte, schaute sie in das grinsende Gesicht von Heather. Die das Titelblatt der Zeitung herausgerissen hatte. »Bin ja nicht aus der Welt«, hatte sie zum Abschied gesagt. Und: »Man sieht sich.«
Celia ließ den verdutzten Buchhändler grußlos stehen, rannte hinaus auf die Straße und warf sich der Freundin in die Arme.
»Sachte, sachte«, lachte Heather. »Kein Grund, gleich vor Freude zu heulen.«
»Heul ja gar nicht«, rief Celia und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Heather schaute sie erschrocken an, schüttelte leicht den Kopf, wies zu dem Buchladen und sagte: »Zwei Dumme, ein Gedanke. Ich wollte auch noch mal schauen, ob ich mehr über die Kannibalen rauskriege. Hast du gefunden, was du wissen wolltest?«
»Ich hab gefunden, was ich nicht wissen wollte«, sagte Celia und hakte sich bei ihrer Freundin unter. Mit dem linken Arm. Weil der rechte so höllisch weh tat.
3
»Auf wen warten wir?«
»Michael.«
»Dein neuer Freund?«
»Er hatte Frühschicht am Hafen und kommt gleich nach Hause.«
»Aha. Und warum warten wir hier?«
»Weil ich keinen Schlüssel für die Wohnung hab.«
»Keinen Schlüssel?«
»Ja.«
»Aber du wohnst doch bei ihm.«
»Und?«
»Warum hast du keinen Schlüssel?«
»Mit dem Schlüssel ist Michael eigen. Den rückt er nicht raus.«
»Aha.«
Sie saßen im Britannia Pub, an der Ecke zur Dorset Street, und schauten durchs Fenster auf die Straße, wo der stürmische Wind Papier und Unrat über das Pflaster fegte. Gegenüber lag der Friedhof von Christ Church. Wo Adam Bedfords Frau und Sohn begraben lagen. In die Herrlichkeit befördert. Heather hatte zwei Helle bestellt, obwohl Celia nichts hatte trinken wollen. Wegen des verlorenen Pennys und weil ihr dauernd die Galle hochstieg. Doch Heather hatte darauf bestanden und wollte sie einladen. Wegen dem unerwarteten Wiedersehen, wie sie meinte. Dabei hatten sie sich erst gestern im Frauenasyl voneinander verabschiedet.
»Und?«, fragte Heather, als der Wirt das Bier auf den Tisch stellte und die Münzen einsteckte. »Wie läuft’s so? Wo drückt der Schuh? Du siehst aus wie ’n Gespenst. Ganz weiß und
Weitere Kostenlose Bücher