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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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unzeitige Geburt nur um wenige Stunden überlebt hatte. George. Über den im Hause Brooks nie gesprochen worden war. Weil die Mutter immer zu weinen anfing und der Vater tobte, wenn sein Name genannt wurde. Man solle die Vergangenheit ruhen lassen, wie er meinte. Die Lebenden seien wichtiger als die Toten. Und dann war er meist in die Kneipe gegangen und hatte sich betrunken. Damit die Vergangenheit endlich ruhte.
    Kurz nach dem Verschwinden des Vaters hatte die Mutter die Putzstelle im Pfarrhaus auf dem Hügel angetreten, obwohl der Pfarrer nur einen Hungerlohn zahlte. Celia hatte oft vermutet, die Mutter sei nur ins Pfarrhaus gegangen, um ihrem Erstgeborenen nahe zu sein. Ihrem Erstgestorbenen. Der zu früh geboren und später zu einem Unausgesprochenen geworden war. George. Wie der Name eines Inns in Southwark. Auf dem Grab nur ein einfaches Holzkreuz mit seinem notgetauften Namen und einer Jahreszahl: 1868. Das Jahr, in dem ihre Eltern geheiratet hatten.
    »Na, Kindchen, mal ’nen Blick riskieren?«, wurde Celia aus ihren wirren Gedanken gerissen. Ein älterer Mann im braun karierten Havelock stellte sich ihr in den Weg und deutete mit gichtigen Fingern zu einer schmalen Gasse, die in nördlicher Richtung von der Hauptstraße abging. »Mitre Street«, stand auf einem Schild am Eckhaus. »Willst du was Interessantes sehen?«
    Celia wich einen Schritt zurück, doch der Mann kam abermals näher.
    »Für ’nen Penny zeig ich dir, wo’s gewesen ist«, sagte er und hob bedeutsam die Augenbrauen. »Wo er sie zerstückelt hat. Wo man sie gefunden hat.«
    »Wen gefunden?«
    »Das letzte Opfer vom Ripper«, sagte der Mann und fasste Celia am Ärmel. »Nur ’n Penny, dann zeig ich’s dir. Auf dem Bordstein war’s. Gleich um die Ecke. Am Mitre Square.« Er grinste und bleckte die wenigen Zähne, die ihm im Mund verblieben waren. »Man kann die Blutflecken noch erkennen.«
    Celia riss sich los, stieß den Mann von sich und rannte davon, so schnell sie konnte. Doch als sie sich nach einigen Sekunden umschaute, erkannte sie, dass der Mann ihr gar nicht gefolgt war, sondern bereits auf den nächsten Passanten einredete und mit seiner dürren Hand zur Mitre Street wies.
    Eine plötzliche Übelkeit stieg in ihr hoch, und vermutlich musste sie sich nur deshalb nicht übergeben, weil sie heute noch gar nichts gegessen hatte. Nichts essen, nur laufen, so hatte sie es sich vorgenommen. Für ’nen Penny. Immerzu nach Osten. Schnurgerade war die Straße. Erst Aldgate High Street, dann Whitechapel High Street, dann Whitechapel Road, dann Mile End Road. Eine Straße, vier Namen.
    Plötzlich die Brick Lane auf der linken Seite. Noch so ein seltsamer Name. Backsteingasse. Als wär’s was Besonderes. Dabei war doch fast alles hier aus Backstein. Bevor Celia wusste, was sie tat, war sie in die schmale Straße abgebogen und hielt nach einem Buchhändler Ausschau. Weil Heather die Seite herausgerissen hatte. Mitgehen lassen. Und weil doch irgendwo der Rest sein musste. Von der Zeitung.
    Celia schwitzte. Dabei war es kalt und feucht. Und ihr Mantel fadenscheinig und abgewetzt. Doch die Hitze wollte nicht aufhören. Sie kam von innen. Als hätte sie Alkohol getrunken. Das hatte sie heute schon einmal gedacht. Richtig, die Natronlauge. Und der Chlorgestank. Wie vergiftet.
    Dann stand sie vor dem Laden und schaute durch das schmutzige Schaufenster. Sie wusste nicht, ob es der richtige war oder ob es noch weitere Buchläden in der Brick Lane gab, doch das interessierte sie nicht. Sie betrat das Geschäft und schaute sich fasziniert um. Der ganze Raum war voller Regale, die wiederum über und über mit Büchern, Folianten und losen Blättern gefüllt waren. Wie ein Irrgarten aus Papier.
    »Kann ich helfen, Miss?«, fragte der Buchhändler, ein alter Mann mit einer winzigen Brille, die ihm beinahe von der Nase fiel. Er lächelte freundlich und fragte: »Alles in Ordnung, Miss? Sie sehen blass aus.«
    »Illustrated London News« , sagte Celia und ließ sich auf einen Stuhl sinken, der neben einem mit Büchern überladenen Tisch stand.
    »Sehr gern«, sagte der Händler, griff in ein Regal hinter sich, fischte eine Zeitung heraus und sagte: »Macht Sixpence.«
    »Nein, entschuldigen Sie«, stammelte Celia, »ich brauche die vom 20. September 1884.« Und als wäre das eine wichtige Information, setzte sie hinzu: »Die Samstagsausgabe.«
    »1884?«, wunderte sich der Buchhändler. »Alte Zeitungen verkaufen wir nicht. Jedenfalls nicht einzeln,

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