Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
die Kirchturmuhr und erschrak. Kurz vor vier! Um drei Uhr sollte sie mit Maureens Koffern im Volkspalast sein. Sie hatte es völlig vergessen. Wie sie den Einkauf vergessen hatte. Oder den Namen des Lords und des Londoner Gerichts. Wie sie überhaupt alles vergaß. Als wäre ihr Gehirn ein Sieb.
Sie eilte hinaus. Schaute in die Dorset Street. Heather und Michael betraten gerade ein Haus auf der rechten Seite. Der Mann mit dem Vollbart und der Schiebermütze war nicht mehr zu sehen. Ein Nachbar. Ein komischer Kauz. Celia wurde übel. Versuchte zu begreifen. Vergeblich. Sie fuhr herum und rannte los. Drei Uhr, hatte Maureen gesagt! Einen Penny hatte sie verloren. Jetzt nichts mehr essen und zu Fuß gehen. So wollte sie es machen. Doch das Bier schwappte in ihrem leeren Magen hin und her. Wie ein Rettungsboot auf hoher See. Wie der Kannibale des Meeres. Den man nicht verurteilt hatte, weil er ein Judas war. Ein Zeuge der Krone.
Celia lief die Straße mit den vier Namen entlang. Nach Osten. Immer weiter. Zählte die Schritte, musste ständig von vorne beginnen, weil sie die Zahlen vergaß. Als sie schließlich die White Horse Lane erreicht hatte, war sie am ganzen Körper nass vor Schweiß. Stank vermutlich wie Mrs. Adams hinter dem Empfangstisch. Drei Treppen bis zur Dachkammer. Außer Atem und hundeelend riss sie die Tür auf. Doch die Koffer waren weg. Der Schminkkoffer und die Kostümtasche. Weg! Sie schaute in der Küche. Nichts. Sie schaute im Schlafzimmer. Auch nichts!
Sie sackte auf die Knie. Das Bier schoss ihr aus dem Hals, bevor sie sich den Mund zuhalten konnte. Und gelbe Galle. Direkt vor Maureens Bett. Dann raste der Boden auf sie zu. Bis es mit lautem Krachen dunkel wurde.
DIENSTAG, 23. OKTOBER 1888
4
Sie kamen sie holen! Sie wusste nicht, ob sie wachte oder schlief. Doch sie wusste, dass die Männer sie holen würden. Im Traum und in der Wirklichkeit waren sie ihr erschienen und hatten sie angestarrt. Immer mit demselben Blick. Vertraut und doch verstört. Erst der junge Mann am Bahnhof Waterloo. Und tags darauf im Fackelzug der Heilsarmee. Mit dem roten Herz auf der Wange, so groß wie ein Half Crown. Ein hübsches Gesicht, mal als eingebildeter Gentleman, mal als derbe fluchender Arbeiter. Neben dem jungen Mann ein älterer Kerl mit Raubvogelaugen, Filzbart und Säufernase, auch er hatte sie angestarrt. Weil er Celias Mutter gekannt hatte, ohne ihr begegnet zu sein. Weil er Mary Tremain in Celia Brooks erkannt hatte. Wie Zwillingsschwestern. »Ich könnte schwören, dass ich dich von irgendwoher kenne«, hatte Rod Webster im George Inn gesagt. Auch er hatte sie erkannt, wegen des alten Fotos. Und schließlich der andere Mann. Der Nachbar. Vor dem Britannia Pub. Mit Vollbart und Seemannsjacke. Ein komischer Kauz. Nicht ganz richtig in der Birne. Warum hatte sie Heather nicht nach dem Namen des Mannes gefragt? Vielleicht weil sie die Antwort bereits wusste? Weil sie bereits am ersten Tag in London geahnt hatte, dass sie ihren Vater womöglich gar nicht wiedererkennen würde, selbst wenn er direkt vor ihr stünde?
»Nicht, kleine Celia!«
Eine kalte Hand legte sich auf ihre Stirn. Sie riss die Augen auf und schrie erschrocken auf. Das hübsche Gesicht stierte sie an. Ganz nah. Traurig lächelnd. Das auffällige Muttermal war unter einem Verband versteckt, aber Celia erkannte ihn dennoch. So leicht ließ sie sich nicht in die Irre führen. Sie wollte wegrennen, sich verstecken, doch es ging nicht. Sie konnte sich nicht bewegen. Hatte sich nicht unter Kontrolle. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie in einem Bett lag. In Maureens Bett. Im Nachthemd. Klitschnass. Der Mann griff nach ihr. Es war um sie geschehen. Sie bäumte sich ein letztes Mal auf und warf sich ins Kissen. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Der Schmerz weckte sie. Ein fürchterliches Brennen. Als stünde sie auf einem Scheiterhaufen und würde bei lebendigem Leib verbrannt. Sie öffnete langsam die Augen und bemerkte, dass sich irgendetwas im Zimmer verändert hatte. Es war dunkler. Celia lag immer noch in Maureens Bett. Und der junge Mann saß nach wie vor auf der Bettkante. Immer noch hübsch und rosig. Wie der Teufel in Menschengestalt. Doch hinter ihm erkannte sie Maureens Gesicht. Stand sie mit den Männern im Bunde? Gehörte Maureen zu ihnen? Auf die andere Seite? Aber welche Seite war das?
»Sei ganz ruhig, Liebes«, sagte Maureen und lächelte. »Mr. Ingram wird dir helfen.«
»Au!«, war alles, was Celia hervorbrachte. Und
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