Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
noch einmal: »Au!«
»Es brennt vermutlich sehr«, sagte der Mann namens Ingram, und seine Stimme klang so lieb und mitleidig, als wollte er sich über sie lustig machen. »Aber es wird die Entzündung aus dem Körper ziehen. Du musst jetzt tapfer sein.«
Da begriff Celia, woher das Brennen und der Schmerz kamen. Aus ihrem rechten Arm. Den sie gar nicht mehr spürte. Obwohl er so unendlich weh tat. Sie registrierte wie von weitem, dass das keinen Sinn ergab. Dann schrie sie auf, weil ihr der Schmerz glühend durch den Körper schoss. Der Mann hatte ihr den Finger der Länge nach aufgeschnitten, mit einem dampfenden Rasiermesser, das Maureen ihm gereicht hatte. Sie steckten alle unter einer Decke! Warum töteten sie Celia nicht einfach? Warum ließen sie sie ausbluten? Warum quälten sie sie?
Dann griff der Mann nach einer Ampulle, schüttelte und öffnete sie und tröpfelte den Inhalt auf ein Tuch, das sich sofort gelbrot verfärbte. Celia wollte die Hand wegziehen, doch Maureen half dem Mann, dessen Hände nun ebenfalls blutrot verschmiert waren. Von Celias Blut. Sie schrie, doch es half nichts, sie pressten ihr den getränkten Lappen auf die blutende Wunde, dass sie vor Schmerz beinahe ohnmächtig geworden wäre. Sie wollte den Mann kratzen, ihn beißen, ihn anspucken, doch im nächsten Augenblick hatte sie einen Löffel im Mund und verschluckte sich an einer bitteren und zähen Flüssigkeit.
»Du wirst jetzt schlafen, kleine Celia«, sagte der Mann und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, die nun ebenfalls blutverschmiert war.
»Du wirst wieder gesund«, sagte Maureen, während sie Celias Hand so stramm umwickelte, als wollte sie die Adern abschnüren. »Ganz bestimmt.«
»Geben Sie ihr in der Nacht noch etwas von dem Laudanum«, sagte der Mann und erhob sich. »Ich muss jetzt gehen, aber ich komme morgen früh wieder her. Dann wechseln wir den Verband.«
»Danke, Mr. Ingram«, sagte Maureen, reichte ihm ein Tuch, damit er sich Celias Blut aus dem Gesicht wischen konnte, und führte ihn aus dem Zimmer. »Sie sind unser Engel, Sir.«
»Rupert«, sagte der Mann. »Nicht Sir. Mein Name ist Rupert.«
»Sie sind unser Engel, Rupert.«
Teufel!, dachte Celia und schlief ein.
MITTWOCH, 24. OKTOBER 1888
5
Hunger! Als sie die verquollenen Augen aufschlug, hatte sie das Gefühl, seit Ewigkeiten nichts gegessen zu haben. Ihr Magen knurrte so laut und andauernd, dass sie erschrocken zusammenfuhr. Sie hatte Angst, das Geräusch könnte den leise schnarchenden Mann auf dem Stuhl wecken. Sein Kopf war zur Seite geneigt, lag auf der linken Schulter. Eine Kerze auf einem kleinen Beistelltisch beleuchtete sein blasses Gesicht. Sie sah das herzförmige Muttermal, das nun nicht mehr verbunden war. Es sah entzündet und verkrustet aus, als hätte er sich daran gekratzt. Mr. Ingram. So hatte Maureen ihn genannt. Celia kam der Name bekannt vor. Woher nur? Sie konnte sich nicht erinnern.
Ihr rechter Arm war verbunden, von den Fingern bis zum Ellbogen. Es brannte noch ein wenig, aber der Schmerz hatte nachgelassen. Kein Scheiterhaufen mehr. Nur noch Restglut. An der Hand war der Verband besonders dick und gelblich gefärbt. Es roch seltsam, wie in Mr. Morrisons Apotheke an der Church Street in Brightlingsea. Nach Kräutern und Chemikalien. Und nach Lakritze. Süßholz und Salmiak.
Wie spät es wohl sein mochte? Und welcher Tag? Wie lange hatte sie geschlafen? Durch die offene Tür konnte sie in den unbeleuchteten Flur und in die Küche schauen, doch durch das schmale Küchenfenster kam kein Licht herein. Die Sonne war bereits unter- oder noch nicht aufgegangen. Maureen war nirgends zu sehen. Auch nicht auf Celias Matratze unter der Dachschräge. Dort lag nur Celias Lederkoffer. Sie beugte sich nach rechts, um besser durch die Tür schauen zu können, doch die Bewegung tat höllisch weh, sie ächzte vor Schmerz. Das weckte den Mann. Ingram. Er lächelte, wirkte erfreut oder erleichtert, sagte aber keinen Ton. Lächelte nur und nickte aufmunternd.
»Wo ist Maureen?«, fragte Celia. Es war eher ein Wispern. Ihre Kehle war ausgedorrt. Jedes Wort tat weh.
»Im People’s Palace«, sagte der Mann. »Auf der Bühne. Sie hat einen Auftritt.«
»Oh!«, entfuhr es Celia, und sie wollte sich aufrichten. »Ich muss … sie braucht mich …« Wieder fuhr ihr der Schmerz aus dem rechten Arm direkt in den Hinterkopf. Und von dort in den Rücken. Wie ein Stromschlag. Sie sank zurück ins Kissen. Atmete schwer und
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