Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
so.«
»Vater wurde freigesprochen«, sagte Celia.
»Ist doch gut, oder?«, fragte Heather und wollte mit ihr anstoßen. »Also ist er kein Kannibale?«
»Doch«, sagte Celia. »Und schlimmer als das.«
»Versteh ich nicht.«
»Ich auch nicht.«
Sie tranken, und beinahe im selben Augenblick bereute Celia es. Die Magensäure stieg in ihr hoch, ihr Bauch verkrampfte sich. Um ein Haar hätte sie Heather das Bier ins Gesicht gespuckt.
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte Heather besorgt.
»Ja«, log Celia. »Hab wenig geschlafen.«
»Haben die Weiber wieder geschnarcht?«
Jetzt wäre der Moment gewesen, um Heather zu beichten, dass sie nicht mehr im Asyl, sondern bei Maureen wohnte. Dass sie ihre Assistentin war, ihr Dienstmädchen. Doch Celia stammelte nur. Sämtliche Worte wollten auf einen Schlag aus ihrem Mund und verhedderten sich auf der Zunge. Heraus kam nur ein genuscheltes: »So ähnlich.«
»Wird Zeit, dass du von den Betschwestern wegkommst«, sagte Heather und legte ihre Hand auf Celias Unterarm. »Mensch, du bist ja ganz heiß!«, rief sie. »Du glühst wie ’n Ofen.«
»Ist nichts«, sagte Celia und schüttelte sich, weil sich Heathers Hand so eiskalt anfühlte. Sie wehrte Heathers Berührung ab und fragte: »Wie geht’s dir denn bei deinem Freund? Behandelt er dich gut?«
»Michael ist in Ordnung«, antwortete Heather betont gleichgültig. »Bisschen grob und grantig, eher der muffelige und maulfaule Typ, aber Hauptsache ich hab ’n Dach überm Kopf.«
»Das hattest du in der Hanbury Street auch.«
»Vergiss es!«, schnaufte Heather. »Da zahl ich lieber Miete bei Michael.«
»Du zahlst Miete?«
»Ist nur fair, oder?«, meinte Heather achselzuckend.
»Und wie willst du das Geld verdienen?«, wollte Celia wissen.
»Wie wohl?«, lachte Heather, grinste anzüglich und machte einen Kussmund.
»Nein!«, rief Celia entsetzt.
»Warum nicht? Dafür kümmert Michael sich um mich. Jeder braucht doch einen, der sich kümmert und für einen da ist, oder?«
»Nein«, wiederholte Celia, aber so leise, dass es nicht zu hören war.
»Wenn man vom Teufel spricht!«, rief Heather und deutete hinaus auf die Straße. Dort standen zwei Männer auf dem Bordstein, der eine mit dunkler Seemannsjacke, Schiebermütze und üppigem Vollbart, der andere mit einem dreckigen Bowler auf dem feisten Schädel und einem buschigen Schnauzbart im Gesicht. Während der Vollbart, der ältere der beiden, ein wenig steif und unbeholfen wirkte, erinnerte der andere an eine wütende Bulldogge.
»Wer von denen ist Michael?«, wollte Celia wissen.
»Der mit dem Schnauzer.«
»Oh!«, entfuhr es Celia gegen ihren Willen.
»Hab nicht behauptet, dass er eine Schönheit ist«, lachte Heather, stand auf und winkte ihrem Freund durch die Scheibe zu.
Auch Celia erhob sich und nickte den Männern etwas unsicher zu. Heathers Freund Michael hob lediglich die Augenbrauen und gab dann Heather mit einer unwirschen Handbewegung zu verstehen, dass sie sich beeilen solle. Der Mann mit dem Vollbart jedoch starrte Celia an, als wäre sie der Leibhaftige. Einen kurzen Augenblick lang dachte sie, bei dem Mann handelte es sich um den Vollbärtigen, den sie im People’s Palace vor dem Gemälde hatte stehen sehen. Den Mann, der ihre Mutter gekannt hatte, ohne ihr begegnet zu sein. Der Vollbart auf der Straße hatte allerdings keine derart runzlige Nase und war zudem nicht glatzköpfig. Doch er stierte sie an, als wäre er nicht bei Trost.
»Wer ist der andere Kerl?«, fragte Celia verunsichert.
»Ein Nachbar«, antwortete Heather. »Ein komischer Kauz, nicht ganz dicht in der Birne, wenn du mich fragst.« Sie zwinkerte Celia verschwörerisch zu, gab ihr einen Kuss auf die Wange, schüttelte nach der Berührung aber erschrocken den Kopf und sagte: »Du solltest ins Bett, Kindchen. Und zwar sofort! Du hast Fieber!« Sie streichelte ihr über den Arm und meinte im Gehen: »Ich muss los, sonst wird Michael sauer.«
Heather ging hinaus, hakte sich vor der Tür bei ihrem Freund unter, der wiederum seinen Nachbarn hinter sich herzog. Durch ein Fenster sah Celia die drei gemeinsam in die Dorset Street einbiegen. Der Mann mit dem Vollbart schaute sich noch einmal mit großen Augen zu Celia um, dann waren sie aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Celia stand wie erstarrt vor dem Fenster und schaute auf die andere Straßenseite, zur weißen Christ Church mit ihrem hohen Turm, der die dichten Wolken zu berühren schien. Dann sah sie auf
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