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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Frage, denn ich hatte ja gesehen, was sie gerade gemacht hatte. Und doch war es die einzig richtige Frage.
    »Ich hab vorm Britannia gewartet«, sagte sie, obwohl das überhaupt keine Antwort auf meine Frage war. Ihre Stimme klang seltsam mechanisch und leblos.
    Der Schmerz an meiner Schläfe war unerträglich. Jede Bewegung fühlte sich an, als landete erneut eine Eisenstange auf meinem Kopf. Lauter kleine platzende Glühlampen in meinem Schädel. Trotzdem rappelte ich mich mühsam auf, bis ich schließlich auf dem Hosenboden saß und meinen Rücken gegen das Bettgestell lehnen konnte. Von dort kam ein leises Schnorcheln, wie ich erleichtert feststellte. Heather lebte noch. Immerhin.
    »Mary?«, fragte Edmund, der nach wie vor an der Bretterwand zu stehen schien.
    »Nein, Vater«, sagte Celia mit ihrer mechanischen Stimme. »Ich bin’s. Celia.«
    »Vater?«, wunderte ich mich und tastete meinen Kopf ab. Ich hatte eine stark blutende Platzwunde über dem Ohr, aber der Schädel war heil geblieben. Ich fragte: »Wieso Vater?«
    »Celia?«, sagte Edmund und setzte nach einer Weile hinzu: »Ach so!«
    Da erst verstand ich und fragte: » Du bist Ned Brooks?«
    »Ich war Ned Brooks«, antwortete Edmund und räusperte sich.
    Derselbe Ned Brooks, an den mein Vater vor zwanzig Jahren seine schwangere Geliebte verschachert hatte. Der Ehemann und Vater aus Brightlingsea, der seine Familie im Stich gelassen hatte. Der Seemann, der später Schiffbruch erlitten hatte und als Kannibale des Meeres im Penny Gaff aufgetreten war. Der Edmund Brooks, der vor vier Wochen Long Liz die Kehle durchgeschnitten hatte. Mit ebenjenem Messer, mit dem seine Tochter nun Michael niedergestochen hatte. Unfassbar! Und doch erschien es mir im selben Augenblick ganz logisch und folgerichtig. Als könnte es gar nicht anders sein.
    Ich kramte die Streichhölzer aus meiner Manteltasche, entzündete eines und suchte den Boden nach dem Kerzenstummel ab. Er lag direkt neben Michaels leblosem Körper. Das Messer ragte wie eine Gaffelstange schräg aus seiner Brust. Nachdem ich die Kerze angezündet und auf den Boden gestellt hatte, fühlte ich Michaels Puls und war, wie ich gestehen muss, erleichtert, als ich keinen fand. Ich schickte ihm einen stummen Fluch ins Jenseits hinterher und schloss seine Augenlider. Zur Hölle mit ihm!
    »Wir müssen zur Polizei!«, rief Celia, die unverändert vor der Tür stand und sich die verbundene Hand vor den Mund hielt. Es hatte den Anschein, als erwachte sie beim Anblick des Toten wie aus einem Traum und erkannte erst jetzt, was geschehen war.
    »Nein!«, rief Edmund und starrte sie erschrocken an. Als sich ihre Blicke trafen, schaute er schlagartig zu Boden und setzte flehentlich hinzu: »Keine Polizei.«
    »Aber er ist tot«, sagte Celia und machte einen Schritt auf ihren Vater zu.
    »Lass mich!«, fuhr er sie an und wich vor ihr wie vor einer Spukgestalt zurück.
    Celia hielt verwirrt und eingeschüchtert inne. Die Tränen standen ihr in den Augen, als sie sich umwandte und auf die Leiche deutete. »Ich hab ihn erstochen. Das musste ich doch.« Nun schaute sie Hilfe suchend zu mir. »Es war Notwehr, oder?«
    »Natürlich war es das«, antwortete ich, während ich gleichzeitig die Eisenstange, die vor Edmund auf dem Boden lag, langsam mit dem Fuß zu mir heranzog. Damit er nicht etwa auf dumme Gedanken kam. »Selbstverständlich war es Notwehr. Er hätte mich erschlagen. Sie haben mir das Leben gerettet, Celia.« Ich schaute zu Edmund und setzte hinzu: »Aber wenn wir zur Polizei gehen, dann landet Ihr Vater am Galgen.«
    Celia schaute mich verständnislos an und schüttelte sich plötzlich, als liefe ihr ein Kälteschauer über den Rücken. »Wieso?«, fragte sie und senkte den Kopf. »Ihnen ist doch nichts passiert. Jedenfalls nichts Schlimmes. Dass Vater Sie … dass er … das müssen Sie der Polizei doch nicht verraten.«
    »Es geht nicht um mich, Celia«, antwortete ich und wusste nicht mehr weiter. Es war alles so verworren und kompliziert. So ausweglos. Wie sollte ich ihr erklären, dass ihr Vater, den sie die ganze Zeit gesucht hatte, ein kaltblütiger oder womöglich geistesgestörter Mörder war? Und wie sollte ich das der Polizei erklären und beweisen? Mit einem Artikel aus dem nicht gerade glaubwürdigen Star? Oder einem geheimnisvollen Ungarn, den niemand kannte? Wenn Edmund alles leugnete oder einfach den Mund hielt, konnte kein Mensch ihm etwas nachweisen. Der einzige Zeuge und Mittäter lag tot zu

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