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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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dass ich in einer halben Stunde unten bin«, krächzte ich und erschrak über meine eigene Stimme.
    »Nicht der Boss«, antwortete Gray, »sondern der Boss vom Boss. Er wartet im Hatchett’s auf Sie.«
    »Mein Vater?«, wunderte ich mich und quälte mich aus dem Bett. Ich konnte mich nicht erinnern, dass wir verabredet gewesen wären. »Worum geht’s? Und komm endlich rein, Gray, ich hab keine Lust, durch die Tür zu brüllen!« Da Gray von meinen nächtlichen Ausflügen ins East End wusste, musste ich vor ihm in dieser Hinsicht nichts geheim halten. Ich schaute auf meine Taschenuhr und erschrak. Es war bereits nach Mittag. »Warum hast du mich nicht früher geweckt?«, schnauzte ich den Jungen an, als dieser das Schlafzimmer betrat und verächtlich die Nase rümpfte.
    »Das hab ich versucht, Sir«, antwortete Gray und öffnete die Dachluke. »Zweimal sogar, aber Sie sind immer wieder eingeschlafen. War ’ne lange Nacht, was? Kann man sehen. Und riechen. Soll ich Kaffee machen?«
    Ich nickte, zog mich aus, warf die nach Rauch und Alkohol stinkenden Sachen in den Weidenkoffer und fragte Gray, bevor er das Zimmer verließ: »Hast du zufällig gehört, was mein Vater mit mir besprechen will?«
    »Ihre Brüder sind auch dabei, glaub ich.«
    »Familienrat?«, staunte ich und fuhr mir über das stoppelige Kinn. »Wieso?«
    »Nicht, dass ich gehorcht hätte«, murmelte er und legte den Kopf schief.
    »Nein, natürlich nicht«, sagte ich und machte eine zugleich beschwichtigende und auffordernde Geste mit der Hand. »Also, worum geht’s?«
    »Na, um Ihren Umzug nach Southwark.«
    »Umzug?« Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Nach Southwark?«
    Gray hob die Achseln und sagte: »Ich mach mal Kaffee. Schön stark und mit viel Zucker. Kann, glaub ich, nicht schaden.«
    Zwanzig Minuten später stürmte ich wutentbrannt ins Hatchett’s und an Bellamy vorbei die Treppe hinauf. Der alte Portier war so überrascht, dass er sogar vergaß zu grüßen. Ich hastete in den ersten Stock, stieß auf der obersten Stufe beinahe mit einem alten General in Ausgehuniform zusammen und rannte zu den Gemächern meines Vaters. Als ich die Tür zum Salon aufstieß, saßen die drei übrigen Ingrams am Rauchertisch und ließen sich die Zigarren schmecken.
    »Ah, da bist du ja, mein Junge«, freute sich mein Vater, doch schon im selben Augenblick nahm sein Gesicht einen verärgerten Ausdruck an. »Du siehst ja fürchterlich aus! Hättest dich wenigstens rasieren können. Mein Gott, wann wirst du endlich vernünftig? Man kann ja Angst vor dir bekommen.«
    Mortimer schüttelte lediglich missbilligend den Kopf, während William grinsend fragte: »Feierst du jetzt jeden Abend deinen Junggesellenabschied?«
    »Was hat das zu bedeuten?«, wollte ich wissen.
    »Was hat was zu bedeuten?«, antwortete mein Vater und rückte sich die Brille zurecht. »Setz dich doch!«
    »Das hier!«, fauchte ich, deutete zum Tisch und blieb an der Tür stehen. »Der Familienrat!«
    »Ich verstehe nicht«, sagte Mortimer immer noch kopfschüttelnd. »Wir müssen doch das weitere Prozedere besprechen. Es wird sich in Zukunft einiges ändern, das kann man doch nicht so einfach übers Knie brechen.«
    »Gar nichts wird sich ändern«, sagte ich und merkte selbst, dass ich mich wie ein bockiges kleines Kind anhörte. »Gar nichts, versteht ihr?«
    »Nein, wir verstehen nicht«, sagte mein Vater und schaute mich verwirrt an.
    »Was ist los, Rup?«, wunderte sich William. Er stand auf und trat langsam auf mich zu. »Du hast doch alles mit Mr. Barclay besprochen und ihm in allen Punkten zugestimmt. Das hast du selbst gesagt, und auch Mr. Barclay hat heute ein Telegramm geschickt und bestätigt, dass ihr eine Übereinkunft getroffen habt.« Er wollte mir die Hand auf die Schulter legen, doch ich zuckte unwillkürlich zurück, obwohl ich ahnte, dass er recht hatte. Hätte ich gestern doch nur besser auf das ermüdende Gerede von Mr. Barclay geachtet. Aber wie hätte ich auch ahnen sollen, dass es um etwas wirklich Wichtiges ging.
    William fuhr besänftigend fort: »Es ist ja auch viel praktischer, in unmittelbarer Nähe der Firma zu wohnen, wenn du in der Brauerei arbeitest. Ich weiß, Southwark ist nicht Mayfair, aber ihr werdet in Anchor Terrace direkt an der Themse wohnen. Mit Blick auf die Kathedrale.«
    »Zum Teufel mit der Kathedrale!«, zischte ich und stand weiterhin unentschlossen auf halbem Weg zwischen Tür und Tisch. »Ich ziehe nicht nach Southwark.«
    »Aber du

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