Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Teufel mit ihnen allen!
»Zum Teufel, Sir?«, maulte der Zeitungsjunge. »Ich verkauf bloß Zeitungen. Kein Grund, gleich zu fluchen.«
Ich schaute den Jungen verwirrt an, drückte ihm eine Münze in die Hand und nahm eine Zeitung. Und aus einer plötzlichen Laune heraus und mit finsterer Miene winkte ich ein Hansom Cab heran, sprang hinein und rief dem Kutscher zu: »Dover Street. Zum Crown Hotel!« Dort würde ich mich schnell umziehen und anschließend ins East End fahren.
»Könnte spaßig werden«, hatte Simeon gestern gesagt. Und genau diesen Spaß hatte ich nun bitter nötig. Auch wenn es ein Vergnügen auf Kosten anderer war. Irgendjemand musste dafür büßen, dass ich mich so elend und ungerecht behandelt fühlte. Dieser Gedanke verschaffte mir zumindest eine kurzzeitige Erleichterung.
Eine halbe Stunde später hatte ich mich in der Mansarde umgezogen, in aller Eile rasiert und die Brieftasche mit Pfundnoten und Münzen gefüllt. Anschließend entfernte ich mich unbemerkt über den separaten Ausgang und ging auf Schleichpfaden zur Piccadilly und von dort durch den St. James Park bis zur U-Bahn-Station. Ich kaufte ein Ticket, bestieg die Bahn und fuhr in östlicher Richtung bis zur Station Aldgate.
Als ich um kurz nach fünf das Bahnhofsgebäude verließ, schlug mir der penetrante Gestank von Blut und Kadavern entgegen. Rund um das Aldgate wimmelte es von offenen Schlachthäusern und Abdeckern, die ihre Abfälle oft tagelang im Freien verrotten ließen und das Blut und die Innereien der Tiere nicht selten einfach in die Gosse kippten. Am Bretterzaun eines Schlachthofs standen einige Jungen und beobachteten, wie eine Kuh mit einem Bolzenschlag zwischen die Augen niedergestreckt und wie ihr anschließend die Kehle durchgeschnitten wurde. Die Burschen begleiteten die Schlachtung mit lautem Beifall und Grölen.
Ich hielt mir den Schal vor die Nase, wich einer bimmelnden Straßenbahn aus und betrat die Aldgate High Street. Von hier war es nur noch ein Katzensprung bis zum Ten Bells Pub.
6
Als ich Simeon gesagt hatte, ich sei der Skeleton Army lediglich aus Langeweile beigetreten, war das bestenfalls die halbe Wahrheit gewesen. Und auch die Aussicht auf ein paar kostenlose Drinks im Ten Bells hätten mich wohl kaum dazu bewogen, mich den Krawallmachern und Randalierern der »Skelettarmee« anzuschließen. Als Mr. Waldron mich vor einigen Monaten gefragt hatte, ob ich nicht Lust hätte, bei den Skeletons mitzumachen und die Versammlungen der Heilsarmee aufzumischen, da wusste ich sehr wohl, dass allein der schiere Eigennutz den Besitzer des Ten Bells antrieb. Die Heilsarmee war den Wirten, Schnapshändlern und Bordellbetreibern im East End nicht länger nur ein lästiger Dorn im Auge, vielmehr hatte sie sich zu einer regelrechten Gefahr für den Umsatz gemausert. Der erstaunlich große Erfolg der gottesfürchtigen Abstinenzler war es, der die Gegenseite dazu veranlasst hatte, eine eigene Armee aufzustellen, um verloren gegangenes Territorium zurückzuerobern. Es ging ihnen nicht, wie sie behaupteten, um die Verteidigung des allgemeinen Rechts auf Alkohol oder Vergnügungen, sondern um den finanziellen Gewinn, der daraus zu erzielen war, die Leute betrunken und lüstern zu halten. Ich war gewiss nicht dumm genug, die fadenscheinige Argumentation der Wirte für voll zu nehmen, und dennoch hatte ich mich nach kurzem Zögern entschlossen, mich in die Rekrutierungslisten der Skeleton Army einzutragen.
Wenn ich ehrlich war, lag es vor allem daran, dass mir die Heilsarmisten unheimlich und fremd waren. Nicht nur, weil sie an einen gütigen und nachsichtigen Gott glaubten, den ich für ein Hirngespinst hielt, und weil sie allem abgeschworen hatten, was mir Freude oder zumindest Ablenkung verschaffte, sondern vor allem, weil sie dabei so selbstgefällig und zufrieden wirkten. Obwohl ich die Ansichten und Lebensweisen der Heilsarmisten nicht im Geringsten teilen konnte und für abstrus hielt, beneidete ich sie in gewisser Weise um die Wirkung, die diese Lebens- und Denkweisen auf ihren Gemütszustand hatten. Sie schienen regelrecht in sich zu ruhen, mit sich selbst im Reinen und über jeden Zweifel erhaben zu sein. Nicht nur ihre simple Botschaft, sondern auch die im wahrsten Sinne soldatische Vehemenz und bedingungslose Überzeugung, mit der sie diese Botschaft nach außen vertraten, machten sie so erfolgreich und für die Gegenseite gefährlich.
Ich war mir durchaus bewusst, dass meine Abneigung im Grunde
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