Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Hätte ich etwas dagegen einwenden können? Wäre ich Manns genug gewesen, mich zu weigern und Mr. Barclay die Stirn zu bieten? Was hätte ich als Alternative für mich und Meredith anführen können? Ein nichtsnutziges Leben in einer Dachkammer? Mit nächtlichen Fluchten in die Gesellschaft von Huren, Gaunern, Trunkenbolden und gerichtlich verurteilten Sodomiten? Offensichtlich war die gesamte Angelegenheit seit Langem zwischen Harvey Ingram und Robert Barclay senior abgemacht. »Geregelt und besiegelt«, wie mein Vater gesagt hatte. Mit der Einwilligung in die Ehe hatte ich mich auch in alles andere gefügt, das aus dieser Hochzeit folgte. Inklusive Umzug nach Southwark und Arbeit in einer Brauerei. Es war naiv oder fahrlässig gewesen, mir das nicht von vornherein klarzumachen.
Während ich auf dem Victoria Embankment an der Themse entlangschlenderte und den mächtigen ägyptischen Obelisken passierte, der im Herzen Londons so seltsam deplatziert wirkte, wanderte mein Blick auf die andere Seite des Flusses, wo die qualmenden Fabrikschornsteine in den Himmel ragten und das südliche Themseufer mit seinen Dockanlagen, Lagerhäusern und Anlegetreppen wie zerklüftet wirkte. Welch ein Unterschied zu dem breiten und gepflasterten Boulevard auf der Nordseite mit seinen uralten Gärten und herrschaftlichen Stadtvillen. Ich hatte mich schon oft in Southwark und an der Bankside herumgetrieben und kannte viele Kneipen und Gasthäuser in dieser Gegend, darunter befand sich auch der Anchor Pub der Familie Barclay. Doch dort zu wohnen, eingezwängt zwischen Fabriken und Lagerhallen, inmitten des Gestanks nach Brausud, Bleichmitteln und Essigessenz, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich war im vornehmen Mayfair aufgewachsen, und auch wenn ich zögerte, das West End mein Zuhause zu nennen, so wusste ich doch sehr genau, wohin ich nicht gehörte. Meine nächtlichen Ausflüge in die Arbeiter- und Elendsviertel waren eben Ausflüge und nur deshalb so spannend, weil ich anschließend nach Westminster zurückkehren und bei Tageslicht ein sorgenfreies Leben unter meinesgleichen führen konnte.
Ich hatte inzwischen die Blackfriars Bridge erreicht, blieb plötzlich stehen und schaute zurück nach Westen, wo der Uhrturm von Big Ben majestätisch über dem Parlamentsgebäude thronte. Mit einem Mal durchfuhr mich ein Gedanke, der mir noch vor wenigen Stunden undenkbar und absurd vorgekommen wäre: Lag womöglich genau darin mein Problem? Dass ich mir immer eine Hintertür offengehalten und nie etwas riskiert hatte? Dass ich das Abenteuer gesucht, aber die Gefahr gescheut hatte? Der Alkohol und das Opium ließen mich die Leere und Nichtigkeit meines Lebens vergessen, aber sie füllten es nicht mit etwas Sinn- oder Gehaltvollem aus. Das Gleiche galt für die Frauen und die Liebe. In den letzten Monaten hatte ich mit vielen Frauen geschlafen, gegen Bezahlung oder aus oberflächlicher Sympathie, doch außer der körperlichen hatte ich noch keine Liebe kennengelernt. Nichts Echtes, Ernstes oder Dauerhaftes. Und das Einzige, was mitunter von diesen flüchtigen Liebschaften übrig geblieben war, war ein leichtes Brennen beim Wasserlassen.
»Tragödie oder Scherz?«, rief ein Zeitungsjunge auf der Brücke und hielt eine Ausgabe des Star in die Luft. »Jack the Ripper schickt Niere des Opfers!«
Während ich auf den Jungen starrte, kehrte ich wie aus einem Traum in die Realität zurück.
»Den London Star , Sir?«, fragte er hoffnungsvoll und hielt mir die Zeitung direkt vor die Nase. »Makaberer Brief vom Ripper, Sir!«
Ich winkte ab und fragte wie im Selbstgespräch: »Tragödie oder Scherz?«
»Ganz recht, Sir!«, sagte der Junge. »Kostet ’nen Halfpenny.«
Plötzlich stieg eine seltsam unbändige Wut in mir auf. Warum glaubten eigentlich alle, nach Gutdünken mit mir umspringen zu können? Warum konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Besonders auf William, dem ich mich von allen Familienangehörigen am nächsten fühlte, war ich wütend. Vermutlich hatte er seit Wochen gewusst, was der Vater und Mr. Barclay ausgeheckt hatten, doch kein warnendes Wort war über seine Lippen gekommen. Er hatte mich einfach in mein Unglück rennen lassen!
Ich tat mir selbst leid und verachtete mich zugleich dafür. Doch andererseits: Warum sollte ich kein Selbstmitleid empfinden? Sonst hatte ja niemand Mitgefühl mit mir! Alle verlangten von mir, ein Leben zu führen wie sie, selbst wenn ich es gar nicht wollte. Zum
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