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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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besonders Lustiges für die Heilsarmisten ausgedacht.«
    Die Erwähnung von Mr. Waldron, dem Wirt des Ten Bells Pub, erinnerte mich an meine erste Begegnung mit Simeon Solomon. Es war vor etwa einem Jahr gewesen. Ich hatte den Abend in einem chinesischen Opiumkeller nahe den Docks von Wapping verbracht und wollte, weil mir das Rauchen die Kehle ausgedörrt hatte, ein letztes Bier im Ten Bells trinken, bevor ich mich auf den Heimweg nach Mayfair begab. Der Pub in Spitalfields hatte sich in den letzten Monaten, die ich mich nun schon nächtens im East End herumtrieb, zu einer meiner Lieblingskneipen entwickelt, weil die Kundschaft dort aus einer ebenso illustren wie lustigen Mischung unterschiedlichster Gestalten bestand. Die Prostituierten warben ganz ungeniert vor dem Eingang um Freier, ihre Zuhälter behielten sie aus dem Kneipeninneren im Auge, Dock- und Fabrikarbeiter beiderlei Geschlechts tranken im Ten Bells ihr Feierabendbier, Gauner und Bettler mischten sich unter das bunte, betrunkene Volk, und immer wieder kamen Schausteller, Musiker und Kleinkünstler zur Tür herein, die auf ihre Auftritte hinwiesen oder gleich an Ort und Stelle ihr Können demonstrierten.
    In diesem Gewimmel fiel ich nicht weiter auf, niemand erkannte den wohlhabenden Bürgersohn unter dem schwarzen Cord-Anzug. Ich hatte in meiner Verkleidung, die ich inzwischen schon als zweite Haut betrachtete, bereits einige interessante Menschen kennengelernt und höchst unterhaltsame Gespräche geführt. Und nicht selten hatten mich solche Begegnungen anschließend in das ärmliche Bett einer hübschen Arbeiterin oder einer jungen Prostituierten geführt.
    Als an jenem Abend vor einem Jahr wieder einmal ein Hausierer zur Tür des Ten Bells hereinwankte und sich dem Tresen zuwandte, rief Mr. Waldron plötzlich hinter dem Schanktisch erfreut: »Simeon, alter Sodomit, was macht die Kunst?«
    Seltsamerweise reagierte der Angesprochene auf diese derbe Beleidigung nicht empört, sondern lachte mit dem Wirt und antwortete einsilbig: »Mehr Inhalt, weniger Kunst!«
    Mr. Waldron verstand offenkundig nicht so recht, was damit gemeint war, setzte aber sein geschäftsmäßiges Lächeln auf und wandte sich wieder seinem Zapfhahn zu.
    Ich betrachtete den sonderbaren Kauz mit dem verfilzten Rauschebart und dem stechenden Blick, der an einer unhandlichen Kladde herumfingerte, und fragte: »Hamlet?«
    Der Bärtige schaute überrascht, beäugte mich mit seinen Habichtaugen, grinste dann aber und sagte: »Nein, mein Name ist Solomon.«
    »Ich meinte das Hamlet-Zitat«, begann ich und stockte plötzlich. Einen kurzen Moment lang ärgerte ich mich, dass ich mich mit meiner unbedachten Äußerung als Literaturliebhaber oder Theatergänger zu erkennen gegeben hatte. Doch dann fügte ich den Vornamen, den der Wirt benutzt hatte, mit dem Nachnamen, den der Bärtige mir genannt hatte, zusammen und fragte: »Simeon Solomon?«
    »Kennen wir uns?«, wunderte er sich.
    »Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie. Oder zumindest eines Ihrer Bilder.«
    »Ich hab neue dabei«, sagte er bereitwillig und klappte seine Kladde auf. »Jedes Bild für Sixpence. Drei für ’nen Shilling.«
    Ich betrachtete die Bilder in Miniaturgröße und schüttelte enttäuscht den Kopf. Es handelte sich um eine Handvoll Postkartenansichten berühmter Londoner Gebäude und Denkmäler sowie biblische Motive in liebloser Bleistiftzeichnung. Läppischer Schund!
    »Nein«, sagte ich, »ich meinte eines Ihrer früheren Bilder. Ein Ölgemälde.«
    Simeon runzelte die Stirn und starrte mich finster an, als wäre es ihm unangenehm, auf seine alten Gemälde angesprochen zu werden.
    »Ja«, mischte sich der Wirt wieder ein. »Unser Simeon war mal ’n richtiger Maler. Kunstakademie und so, stimmt’s, mein jüdischer Freund?« Er grinste schief, dann beugte er sich zu mir hinüber und setzte augenzwinkernd hinzu: »Bis sie ihn auf einer öffentlichen Toilette mit einem anderen Kerl erwischt haben. Auf frischer Tat.« Er lachte dreckig und klopfte Simeon auf die Schulter. »Da war’s dann Essig mit der Karriere. Heute verhökert er seine Kunst in den Kneipen.« Mr. Waldron deutete auf die Bilder, die immer noch ausgebreitet auf dem Tresen lagen, betrachtete interessiert eine Ansicht des Towers und sagte: »Das hier finde ich allerdings ganz hübsch. Was willst ’n dafür haben?«
    »Sixpence«, murmelte Simeon und schaute zu Boden.
    »Träum weiter«, lachte der Wirt, nahm das Bild an sich und sagte: »Geb

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