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Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Titel: Vor dem Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Fontane
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herumführte. Diesen Weg schlug er ein, bis er an den linken Chorpfeiler kam. Da war es, das Grab. Von dem Efeu, der es überwuchs, war unter der weißen Grabdecke nicht viel zu sehen, aber an dem Pfeiler stieg er, von Schnee nur wenig überstreut, bis dicht unter das Dach empor. An eben diesem Pfeiler lehnte auch das Holzkreuz, das, trotzdem es kaum drei Jahre stand, schon wieder halb umgefallen war und mit seiner Aufschrift – soviel sich erkennen ließ, nur ein Name ohne Spruch und Datum – klagend oder bittend gen Himmel sah. Lewin fühlte sich erschüttert von dem Anblick und faltete unwillkürlich die Hände; dann verfolgte er im Schnee hin den schmalen Weg weiter, bis er wieder an die Stelle kam, von der er ausgegangen war, und schritt nun über den Damm hin auf seine Wohnung zu.
    Frau Hulen war noch auf; sie ging nicht gern eher zu Bett, als bis sie ihren jungen Herrn unter Hut und Obdach wußte.
    »Raten Sie, Frau Hulen, wo ich herkomme?«
    »Von dem Geheimrat, wo das schöne Fräulein ist.«
    »Da war ich auch. Vorher. Aber jetzt.«
    »Ich kann es nicht raten.«
    »Von Johanna Susemihl.«
    »Und um Mitternacht!«
    »Das ist die beste Zeit. Wissen Sie, Frau Hulen, mir tut die Johanna leid. Wer kann immer tugendhaft sein?«
    »Gott, Gott, junger Herr, was is das nur mit Ihnen!«
    Lewin antwortete nicht und pfiff leise vor sich hin. Er schien zerstreut und die Gegenwart der Alten kaum zu bemerken. Endlich begann er wieder: »Ich bin noch nicht müde, Frau Hulen; das macht, ich habe heute nachmittag meinen Schlaf vorweggenommen. Bringen Sie mir noch die grüne Schirmlampe, die kleine mit dem runden Fuß; ich will noch lesen.«
    Frau Hulen tat, wie ihr geheißen, empfahl ihm noch, seinen Mantel über das Fußende zu legen und dreimal, ohne sich zu rühren, bis hundert zu zählen, und ließ ihn dann allein.
    Er war in der Tat in einer Aufregung, die die guten, ihm von der Alten gegebenen Regeln nur allzusehr rechtfertigte. In fieberhafter Schnelle lösten sich die auf ihn einstürmenden Bilder untereinander ab, und wechselnde Gestalten umschwirrten und umdrängten ihn: Kathinka trat zur Mazurka an, aber ihr Tänzer war nicht Bninski, sondern Bummcke; dann sah er den Grafen mit Johanna Susemihl neben dem Chorpfeiler stehn, und dann wieder kam General Yorck über ein weites Schneefeld geritten, das immer enger wurde, bis es der Klosterhof war, und drohte den beiden, die sich hinter dem Chorpfeiler zu verstecken suchten, mit dem Finger. Endlich wichen die Gestalten; das Fieber fiel von ihm ab, und ein Zustand süßer Mattigkeit überkam ihn, in dem dann und wann sogar ein Hoffnungsflämmchen aufzuckte. Zugleich regte sich der Wunsch in ihm, dieser Stimmung, in der sich Trauer und Hoffnung die Waage hielten, Ausdruck zu geben. Er schritt auf seinen altmodischen Sekretär zu, stellte vom Tisch her die kleine Schirmlampe auf die längst schräggedrückte, bei jeder Berührung knarrende Platte, nahm aus einem der Fächer eine Anzahl immer bereitliegender weißer Blätter und schrieb:
     
    Tröste dich, die Stunden eilen,
    Und was all' dich drücken mag,
    Auch das Schlimmste kann nicht weilen,
    Und es kommt ein andrer Tag.
     
    In dem ew'gen Kommen, Schwinden,
    Wie der Schmerz liegt auch das Glück,
    Und auch heitre Bilder finden
    Ihren Weg zu dir zurück.
     
    Harre, hoffe, nicht vergebens
    Zählest du der Stunden Schlag;
    Wechsel ist das Los des Lebens,
    Und – es kommt ein andrer Tag!
     
    Es war ihm von Zeile zu Zeile freier ums Herz geworden. Er schob das Blatt unter die anderen Blätter, legte sich nieder und schlief ein.
     
    Es war schon acht Uhr vorüber, als Frau Hulen, die die ganze Wochen- und Tageseinteilung genau kannte und wohl wußte, daß der Dienstag »Kollegientag« war, nach mehreren gescheiterten Versuchen, ihren jungen Herrn durch Tassenklappern und Öffnen der Alkoventür zu wecken, endlich eine Blechschippe mit großem Lärm, als würden zwei Becken zusammengeschlagen, umfallen ließ. Das half denn auch; Lewin fuhr auf, suchte noch halb schlaftrunken auf dem Nachttisch umher und ließ die Uhr repetieren. Acht und ein Viertel! Er erschrak über die späte Stunde, ließ es sich aber angelegen sein, durch Eile das Versäumnis wieder einzubringen, und stand zwanzig Minuten später marschfertig in seinen Stiefeln.
    Der feste Schlaf hatte ihm wohlgetan, alle trüben Gedanken waren wie verflogen, und erst der Anblick seiner eignen Strophen, die nur halb versteckt auf der Sekretärplatte lagen, rief

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