Vor dem Sturm
ausschließen. Wo die Bewährung der einen durch die Verletzung der anderen erkauft werden muß, da wird freilich immer ein bitterer Beigeschmack bleiben; aber gerade der, der diesen Beigeschmack am bittersten empfindet, wird aus den reinsten Beweggründen heraus gehandelt haben.«
»Und es ist General Yorck, an den Sie dabei denken?« fragte Bninski mit einem Anfluge von Spott.
»Gerade an ihn dacht ich. Kurz, Graf, Sie dürfen ihn verurteilen, nicht verdächtigen. Was seine Tat gilt, wird sich zeigen; seine Ehre aber, wie sie meines Schutzes nicht bedarf, sollte gegen jeden Zweifel oder Angriff gesichert sein.«
Es schien, daß Bninski antworten wollte, aber die Musik begann wieder, und die jetzt halb zurückgeschlagene Portiere ließ erkennen, daß die Paare zu einem Contre zusammentraten. Kathinka, mit dem jungen Grafen Brühl engagiert, mahnte zum Abbruch des Gesprächs, das ohnehin andere Wege gegangen und von längerer Dauer gewesen war, als der Geheimrat bei Beginn desselben vorausgesehen hatte. Manches war ihm peinlich gewesen; nur Tubals gute Haltung hatte ihn mit diesem Peinlichen wieder versöhnt.
Ehe der Contre zu Ende war, wußte die ganze Gesellschaft von dem großen Ereignis. Die Wirkung war um vieles geringer, als erwartet werden durfte. Die Herren versicherten, »daß sie nicht überrascht seien, daß sich vielmehr nur ein Unausbleibliches vollzogen habe«. Die Damen dachten der Mehrzahl nach wie Kathinka und waren nur klug genug, mit einem gleichmütigen »Eh bien« zurückzuhalten. Aber wie gering die Wirkung sein mochte, sie war doch groß genug, eine gewisse Zerstreutheit hervorzurufen und dadurch die Gesellschaft zu stören. Schon um zwölf fuhren die ersten Wagen vor, und ehe eine halbe Stunde um war, hatten sich die Säle geleert.
Bummcke, Jürgaß, Lewin, zu denen sich auch Baron Geertz und der alle andern beinahe um Haupteslänge überragende Major von Haacke gesellt hatten, gingen zusammen die Treppe hinunter. Unten trennte sich Lewin von ihnen; die vier andern Herren aber hatten denselben Weg und schritten auf die Lange Brücke zu. Als sie die Mitte derselben erreicht hatten, sahen sie zu dem Reiterstandbild des Großen Kurfürsten auf, das in seiner oberen Hälfte vom Marstall und alten Postgebäude her, in deren Fenstern noch Licht war, beleuchtet wurde. Der prächtige Kopf schien zu lächeln.
»Seht«, sagte Jürgaß, »er sieht nicht aus, als ob es mit uns zu Ende ginge.«
Sechstes Kapitel
Im Kolleg
Lewin schritt die Königsstraße nach links hinunter, um seine Wohnung auf nächstem Wege zu erreichen. Ein leiser, aber eiskalter Wind wehte vom Alexanderplatze her und schnitt ihm ins Gesicht; er zog den Mantelkragen in die Höh und grüßte den Wächter, der sich Schutzes halber unter das Portal des Rathauses gestellt hatte.
»Scharfer Wind, Ehrecke.«
»Ja, junger Herr; 's is Bernauscher, der geht immer bis auf die Knochen.«
Damit wünschten sie sich eine gute Nacht, und Lewin hörte nur noch das Knarren der Laternen, die sich in ihren über die Straße gespannten Ketten langsam im Winde hin und her bewegten. Er passierte den Hohen Steinweg, bog in die Klosterstraße ein und sah hier, immer sich rechts auf dem Bürgersteige haltend, mit halbem Auge nach der andern Seite hinüber, wo er seit lange jedes Haus kannte. Bei Bäcker Lehweß war Licht, und der Geruch von frischgebackenem Brot zog aus dem offenstehenden Fenster der im Souterrain befindlichen Backstube quer über den Fahrdamm hin bis zu ihm herüber. Dicht daneben, vor dem als Magazin dienenden alten »Lagerhause« (dem ehemaligen kurfürstlichen Schloß), stampfte ein französischer Wachtposten, der sein Gewehr an das Schilderhaus gelehnt hatte, mit beiden Füßen in den Schnee und schlug sich mit den Armen überkreuz, wie die Matrosen tun, wenn sie die Finger wieder geschmeidig haben wollen. Dann kam das »Graue Kloster« und dann die Klosterkirche, deren beide Spitztürme eine hohe Schneehaube trugen; sie saß um so fester, je zerbröckelter die Steine waren.
Lewin, als er der Kirche ansichtig wurde, fühlte plötzlich ein Verlangen, dem Grabe Johanna Susemihls einen Besuch zu machen. Er ging von der rechten auf die linke Seite der Straße hinüber und trat durch einen zerfallenen Bogengang auf den Kirchhof. Alles war dicht verschneit. Er sah aber bald, daß ein Pfad in den Schnee getreten war, der an den Gräbern vorbei und, wo diese schon eingesunken waren, auch über sie hinweg um die Kirche
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