Vor dem Sturm
ihm die Stimmung des vorigen Abends zurück. Aber nur in seinem Gedächtnis, nicht in seinem Gemüt. Er überflog die Zeilen und schloß mit halblauter Stimme: »Und es kommt ein andrer Tag« Dabei war ihm so frisch zu Sinn, als ob dieser »andere Tag« schon angebrochen sei. In gehobener Stimmung nahm er seinen Weg erst über die Lange Brücke, dann an der Stechbahn und Schloßfreiheit vorbei und schritt auf die Universität, das ehemalige Prinz Heinrichsche Palais, zu.
Er machte diesen Weg nur zweimal in der Woche. Bereits hoch in den Semestern, ja seit dem Herbste mit seinem Triennium fertig, fand er es ausreichend, nur noch das zu hören, was ihm besonders zusagte oder so glücklich lag, daß es ihm die Tage, die er frei haben wollte, nicht unterbrach. So hörte er bei Savigny, bei Thaer und Fichte, die alle drei am Dienstag und Freitag, und zwar in drei hintereinanderfolgenden Stunden lasen. An den übrigen Tagen hielt er sich zu Haus, Studien hingegeben, die ganz und gar seiner Neigung entsprachen. Er las viel, stand ganz in den Anschauungen der romantischen Schule, verfolgte mit besonderem Eifer die Fehden, die dieselbe führte, und nahm auch wohl gelegentlich selbst an diesen Fehden teil. Seine Lieblingsbücher, die nicht von seinem Tisch kamen, waren Shakespeare und die Percysche Balladensammlung; beiden zuliebe hatte er Englisch gelernt, das er nicht sprach, aber gut verstand. Dann und wann versuchte er sich selbst in einigen Strophen, nach Ansicht der Kastalia mit Erfolg, nach seiner eigenen Meinung aber ohne wirklich dichterischen Beruf. Indessen muß gesagt werden, daß er hierin zu weit ging und wenigstens in einem Punkte, vielleicht gerade in dem entscheidenden, in einer irrtümlichen Strenge gegen sich selbst befangen war. Das nämlich, was er sich als Schwäche auslegte, war in Wahrheit seine Stärke. Er machte keine Gedichte, sie kamen ihm, und er genoß des Glückes und Lohnes (des einzigen, dessen der Dichter sicher sein darf), sich alles, was ihn quälte, vom Herzen heruntersingen zu können.
Die erste Vorlesung war heute bei Savigny. Er sprach über »Römisches Recht im Mittelalter« und schien, der völligen Ruhe nach zu schließen, mit der er begann und endigte, von dem großen Tagesereignis, das in der Tat erst im Laufe der Vormittagsstunden allgemeiner bekannt wurde, nichts gehört zu haben. Auch in dem unmittelbar folgenden Thaerschen Kolleg geschah der Kapitulation mit keiner Silbe Erwähnung, entweder weil der Professor ebenfalls noch ohne Kenntnis war oder voll feinen Taktes empfand, daß das Thema seiner Vorlesung: »Der Fruchtwechsel und die landwirtschaftliche Bedeutung des Kartoffelbaues« keine recht passende Anknüpfung gestattete.
Von elf bis zwölf las Fichte über den »Begriff des wahrhaften Krieges«. Es war ein Collegium publicum, für das, ebenso mit Rücksicht auf das Thema wie auf die Popularität des Vortragenden, von Anfang an der größte der Hörsäle gewählt worden war; nichtsdestoweniger war alles längst besetzt, als Lewin eintrat, und nur mit Mühe gelang es ihm, sich auf der letzten Bank einen halben Eckplatz zu erobern. Aller Erwartungen waren gespannt, und diese sollten nicht getäuscht werden. Das akademische Viertel war noch nicht um, als der kleine Mann mit dem scharfgeschnittenen Profil und den blauen, aber scharf treffenden Augen auf dem Katheder erschien. Er hatte sich mühevoll den Aufgang erkämpfen müssen. »Meine Herren«, begann er, nachdem er nicht ohne ein Lächeln der Befriedigung seinen Blick über das Auditorium hatte hingleiten lassen, »meine Herren, wir sind alle unter dem Eindruck einer großen Nachricht, die
nicht
kennen zu wollen mir in diesem Augenblick als eine Affektation oder eine Feigheit, das eine so schlimm wie das andere, erscheinen würde. Sie wissen, worauf ich hinziele: General Yorck hat kapituliert. Das Wort hat sonst einen schlimmen Klang, aber da ist nichts, das gut oder böse wäre an sich; wir kennen den General und wissen deshalb, in welchem Geiste wir sein Tun zu deuten haben. Ich meinesteils bin sicher, daß dies der erste Schritt ist, der, während er uns zu erniedrigen scheint, uns aus der Erniedrigung in die Erhöhung führt. Es werden auch andere Worte und Auslegungen an Ihr Ohr klingen. Die Feigheit, weil sie sich ihrer selber schämt, sucht sich hinter Autoritätsaussprüchen oder einem Kodex falscher Ehre zu decken; ja, sie flüchtet sich hinter den besten Wappenschild dieses Landes. Aber das Nest des Aares
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