Vor dem Urknall
dem Fortgeschrittenen LIGO mit der zehnfachen Empfindlichkeit des ursprünglichen LIGO nicht gelingen sollte, Gravitationswellen aufzuspüren, könnte die Zeit gekommen sein, die Theorie neu zu überdenken, obwohl es sich schon lohnen würde, für eine absolute Bestätigung auf die Empfindlichkeit von LISA zurückgreifen zu können. Sollten wir tatsächlich eine Ausbreitung von Gravitationswellen erkennen, die bis zum Anfang des Universums zurückzuverfolgen sind (eine hundertprozentige Sicherheit wird es kaum geben), müssen wir diese Daten immer noch interpretieren, doch im Prinzip würden sie einige Hinweise darauf geben, wie das Universum begann. Da spielen natürlich eine Menge Wenn und Aber mit, aber hier eröffnet sich die Möglichkeit, eine Disziplin, die größtenteils auf Spekulationen beruht, ein wenig besser zu verstehen.
Welche Ergebnisse LIGO und LISA auch immer in Zukunft liefern werden, derzeit wird der Urknall von den meisten Kosmologen anerkannt. Bevor wir uns also anderen Theorien zuwenden, die uns eine bessere Antwort auf die Frage «Was war davor?» liefern, wollen wir vorübergehend annehmen, dass die Theorie stimmt, damit wir uns darüber im Klaren sein können, wie sich die Zeit zum Urknall verhält. Dann könnten wir verstehen, warum es bei der populärsten Version der Theorie das Konzept «Vor dem Urknall» einfach nicht gibt.
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8. Es werde Zeit
Der Umfang eines Augenblicks, verglichen mit einer Zeit von zehntausend Jahren, bildet zwar nur einen sehr geringen, aber doch immerhin einen gewissen Teil dieser letzteren, da eben beides doch begrenzte Zeiträume sind. Andererseits kann aber die Zahl von zehntausend Jahren und selbst noch ein Vielfaches davon mit der unbegrenzten Ewigkeit überhaupt nicht verglichen werden, weil eine Vergleichung zwar zwischen zwei endlichen Größen, niemals aber zwischen einer endlichen und einer unendlichen möglich ist.
Anicius Manlius Severinus Boethius (480–524),
Die Tröstungen der Philosophie, 2. Buch
Bevor ich mit diesem Kapitel beginne, empfehle ich Ihnen, eine Tasse oder ein Glas mit ihrem Lieblingsgetränk zu holen und sich irgendwo bequem und in aller Stille niederzulassen, sodass Ihr Gehirn sich frei entfalten kann. Nicht dass das Konzept selbst besonders kompliziert wäre, aber die Folgen könnten Sie den Verstand kosten. Hier wird der Text von John Lennons «Imagine» weitergedacht: Stell dir vor, es gäbe keine Zeit, oder stell dir zumindest vor, die Zeit begann mit dem Urknall.
Sollte es wirklich stimmen, dass die Zeit mit dem Urknall begann – denn das ist nun einmal der Vorschlag, der am häufigsten mit der Urknalltheorie plus Inflation in Verbindung gebracht wird –, dann gibt es eine ganz einfache Antwort auf die Frage, was vor dem Urknall kam. Nichts. Weil es kein «Vor dem Urknall» gab. Das vierdimensionale Modell des Universums, von Einstein und seinem mathematischen Guru Minkowski geschaffen, hat die vertrauten drei Dimensionen des Raumes und eine Zeitdimension. Was wäre, wenn all diese Dimensionen einen eindeutigen Anfangspunkt gehabt hätten? Was wäre, wenn es vor dem Urknall einfach keine Zeit gegeben hätte?
Zeitreise im vierten Jahrhundert
Um einen grundlegenden Eindruck von dieser Vorstellung zu bekommen, müssen wir in der Zeit zurückreisen, allerdings nicht die ganze Strecke zurück bis zum Urknall, aber immerhin bis zum vierten Jahrhundert n.Chr., denn 354 kam ein Mann zur Welt, der einige tiefe Einsichten in das Wesen des Universums hatte. In seiner Vorstellungskraft existierten Zeit und Raum als eine Einheit. Der Name des Mannes war Augustinus.
Heute nennt man ihn den heiligen Augustinus von Hippo (Hippo war eine römische Stadt in Nordafrika, das heutige Annaba in Algerien), um die Verwechslung mit dem heiligen Augustinus aus dem fünften Jahrhundert zu vermeiden, der die Kirche von England gründete und der erste Erzbischof von Canterbury war. Augustinus von Hippo war eine der Hauptfiguren, die an der Gründung der Kirche beteiligt waren, ein «Kirchenvater», der sich unter anderem die Lehre von der Erbsünde ausdachte.
Augustinus war der Sohn eines Bauern in Thagaste (heute Souk-Ahras) in Algerien. Er wurde erst mit 35 Jahren Christ. Zuvor führte er ein weltliches Leben, das ihm Einsichten verschaffte, die den anderen Kirchenvätern verborgen blieben. Berühmt ist sein Ausspruch, er habe als junger Mann gebetet: «Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, doch nicht sogleich!»,
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