Vor uns die Nacht
und meine klopfenden Schläfen ignorierend marschiere ich mit der schweren Tasche über der Schulter Richtung Altstadt. Fort von den Kirchen und ihrem Geläut in meinem Rücken, doch nicht weit genug, um mich frei zu fühlen.
Als ich die Wohnungstür aufschließe und endlich die Tasche von meiner Schulter gleiten lasse, weiß ich, dass der Kummer gewonnen hat.
Camera obscura
S chluss jetzt.« Ein letztes Mal schnäuze ich mich und werfe das Taschentuch zu den anderen in den Papierkorb. Ich wollte nicht weinen. Mit etwas Disziplin war dieser kurze Heulkrampf ein einmaliger Ausrutscher. Ich muss meinen Gedanken eine andere Richtung geben, sie sinnvoll beschäftigen. Suchend schaue ich mich in meinem kleinen WG-Zimmerchen um.
Dieser Raum bietet nicht allzu viel an Zerstreuungsmöglichkeiten, mit denen ich mich von meinem desaströsen Liebesleben ablenken kann. Ein schmales Bett unter der Schräge, ein Lesesessel, ein Bücherregal, ein Schreibtisch am Fenster, ein eintüriger Schrank. Mehr passt nicht rein. Ich habe nicht einmal einen Fernseher.
Es ist eine Gefängniszelle mit Studentencharme plus Blick auf den Dom und nicht die große Freiheit – genauso wie diese WG keine WG ist. Wir nennen sie so, aber das ist eine heillose Übertreibung. Es ist eine Wohnung, die Jonas angemietet hat, nachdem er seine Ausbildung beendet hatte, und in der er mir ein Zimmer freiräumte, damit ich nach dem Abitur wie normale Studenten von zu Hause ausziehen konnte. Von meinem Elternhaus aus hätte ich zwar auch täglich mit dem Zug zur Uni fahren können, aber das wollte ich nicht. So wurde ein Kompromiss gefunden.
Anfangs hatten wir unausgegorene Pläne, für den dritten Raum einen weiteren Mitbewohner zu finden, damit es eine echte WG wird. Doch Jonas hat nie aufrichtig nach jemandem gesucht und recht bald wurde darin ein Wohnzimmer eingerichtet mit den ausrangierten, verstaubten Möbeln seiner Eltern. Nicht selten sitzen Jonas und ich hier abends wie ein altes Ehepaar beisammen und schauen Filme, ich auf dem Sessel, er auf der Couch. Sicherheitsabstand. Ich brauche diesen Sicherheitsabstand, nicht er. Ich möchte ihm nicht etwas signalisieren, das ihm Hoffnung machen könnte. Dazu habe ich ihn zu gern.
Sein eigenes Zimmer ist erst recht kein WG-Zimmer, sondern kommt mir seit jeher wie ein klassisches Elternschlafzimmer vor. Doppelbett, breiter Schrank, Gardinen, keinerlei Schnickschnack. Ich bin mir sicher, dass es in ganz Berlin keine einzige WG mit einem solch spießigen Zimmer gibt. Das Einzige, was diesen Eindruck abmildert, ist der Boxsack, der in der Ecke von der Decke baumelt und an dem Jonas manchmal seine Schlagkraft trainiert.
Eigentlich wohnen Jonas und ich also zusammen und tun nur so, als sei es eine WG, damit nicht ständig thematisiert wird, dass wir kein Paar sind, wie unser Umfeld es seit Jahren als erstrebenswert betrachtet, und damit ich mir einreden kann, ich habe meinen eigenen Raum. Auch deshalb besitze ich keinen Fernseher. Sonst bestünde die Gefahr, dass Jonas hier einen Film mit mir schauen möchte, und das könnten wir nur vom Bett aus. Insofern bin ich sogar froh über den fehlenden dritten Mann, denn so haben wir einen neutralen Raum der Begegnung und verschwinden nach dem gemeinsamen Fernschauen in unsere eigenen Gemächer.
Johanna findet das romantisch und spannend dazu. Sie glaubt, dass die Sehnsucht irgendwann so groß wird, dass Jonas und ich eines Nachts im gleichen Moment aus unseren Zimmern schleichen, uns mit der Türklinke in der Hand auf dem Flur begegnen, uns in die Augen sehen und … Oh, wir sind uns schon nachts auf dem Flur begegnet, im November zum Beispiel, als wir uns beim Mexikaner den Magen verdorben hatten und das Klo the place to be war. Und einmal habe ich ihn versehentlich unter der Dusche erwischt und er mich beinahe beim Sex gestört. Zum Glück hatte ich die Tür abgeschlossen. Doch romantische Gefühle sind dabei nicht aufgekommen.
Ich hatte diese Idee ja auch schon – dass ein Moment kommt, in dem alles stimmt und die Welt wie verzaubert ist und mein innerer Kompass sich endlich in die richtige Richtung ausrichtet. Doch bisher ist dieser Moment nicht gekommen.
Ich habe nicht gelogen – ich muss tatsächlich meine Seminararbeit fertig schreiben; viel ist nicht mehr zu tun, aber meistens halte ich mich tagelang mit den Korrekturen auf. Damit könnte die Zeit zwischen den Jahren überbrückt werden. Ich habe diese Tage schon immer als tote Phase empfunden und war
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