Vor uns die Nacht
muss das Ruder rumreißen, schnell.
»Was ist rot und rennt durch den Wald?«
Kratzig und dennoch unüberhörbar zerteilt meine Stimme das freundlich-betuliche Geplapper der guten Seelen und ich spüre, wie Jonas neben mir zu Eis gefriert. Ich müsste selbst zu Eis gefrieren. Denn wie Jonas kenne ich die Antwort. Jonas hasst diesen Witz, doch ich habe einen Narren daran gefressen.
Lächelnd drehen die Damen sich zu mir herum und schauen mich interessiert an, in ihren lackierten Händen Tässchen und Schnittchen und eine Frisur perfekter als die andere.
»Ein geschälter Neger. Und was ist rot und grün und rennt durch den Wald?«
Es ist wie bei einem Lachflash – man kann nicht aufhören, so unpassend es auch ist. Nur lacht jetzt niemand. Auch ich nicht. Die Stille, die sich ausbreitet, ist wie eine lautlose Sirene, die mich vor meinem eigenen Untergang warnen will, doch ich stürze mich mit ausgebreiteten Armen mitten hinein, obwohl Jonas bereits mein Handgelenk ergriffen hat und mich wegziehen will.
»Ein geschälter Neger mit einer Gurke im Arsch.«
Frau Kehrlein beginnt so laut zu husten, dass Mamas ersticktes »Ronia!« kaum zu hören ist, während Jonas mich mit beiden Händen packt und mehr in die Küche trägt als schiebt. Gleichzeitig erhebt sich Vaters Stimme und löst das Grauen. Ich habe nicht mitbekommen, dass er hier ist, aber ein guter Pfarrer erscheint stets im richtigen Moment.
»Ein Ethik-Experiment von der Uni«, erklärt er mit sicheren Worten, aus denen nur Mama und ich die nachtschwarze Fassungslosigkeit heraushören können. »Es geht um Vorurteile, ist hier aber wohl eher fehl am Platz … Sie hat es gut gemeint! Wie war Ihr Heiligabend, meine lieben Damen?«
Ich lache lautlos auf. Das hat er ja fein hingekriegt. Ehtik-Experiment. Nein, ich drehe einfach nur ein wenig durch.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen!?«, zischt Mama mich an. Ihre Wangen sind von einem feinen Schweißfilm überzogen. »Was bitte sollte denn das?«
»Die kommen immer gut«, erkläre ich und muss grinsen. So etwas hab ich noch nie getan. Ich war unberechenbar gewesen. Und es fühlte sich beinahe gut an. Für drei Sekunden hatte ich die Menschen um mich herum völlig in meiner Macht gehabt. Und spätestens in einer halben Stunde werde ich Jonas bitten, mich deshalb lebendig zu begraben.
»Ronia! So kenne ich dich nicht! Bist du etwa betrunken? Du bist so spät nach Hause gekommen. Was ist los mit dir?«
»Ich war betrunken. Jetzt bin ich nüchtern.« Und wie nüchtern ich bin. Ich habe mich geirrt, es dauert keine halbe Stunde. Bereits in diesem Moment möchte ich lebendig begraben werden. »Tut mir leid, Mama, ist mir so rausgerutscht. Ich … mir … mir geht’s nicht so gut, ich …«
Jonas’ Griff lockert sich. Beruhigend streicht er über meinen linken Unterarm. Ich lasse es zu, während er und Mama prüfende Blicke austauschen und ich erneut vom Gefühl der Scham überflutet werde. Wird langsam zur Gewohnheit. Doch Mamas Strenge gewinnt – und sie bekommt den besten Beistand, den sie auf dieser Erde finden kann. Als habe ein Regisseur es minutiös geplant, schwingt die Küchentür auf und Vater tritt zu uns. Sein Blick spricht Bände.
»Meine liebe Ronia, ich dulde es nicht, dass wir und unsere Helfer dein gescheitertes Liebesleben ausbaden müssen, das hat hier …«
»Ich habe kein Liebesleben und niemand muss es ausbaden außer mir«, widerspreche ich ihm und mir in einem einzigen Satz und rausche zwischen meinen Eltern hindurch, um die andere Küchentür in den Flur zu nehmen. »Ich bleibe bis Neujahr in der WG.«
»Aber Ronia!«, ruft Mama mir hinterher. »Du warst doch immer bei uns an Weihnachten! Wir haben noch Termine, Großmutter kommt und …«
Aber ich bin bereits in meinem Zimmer und stopfe meinen Kulturbeutel, mein Handy und meinen Pyjama in meine Tasche, zusammen mit den nach Rauch müffelnden Klamotten von gestern Abend. Wenn ich nicht bald Raum für mich kriege, mutiere ich zur Amokläuferin.
»Sorry, geht nicht anders, muss an meiner Arbeit schreiben und die Uniunterlagen sind bei Jonas«, nuschele ich, als ich wieder nach unten stolpere, wo sie nun zu dritt im Flur stehen und mir ratlos entgegenblicken. Neugierig lugt Frau Kehrlein durch die halb geöffnete Wohnzimmertür. Heute Nachmittag werde ich Stadtgespräch sein, so viel steht fest. Ich nicke ihr kurz zu, hebe grüßend die Hand und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Adios.
Im Stechschritt
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