Vor uns die Nacht
dankbar, dass das Pfarrhausdasein uns so viele Termine vorsetzte, dass keine Langeweile aufkam. Denn partymäßig war zwischen den Jahren stets tote Hose gewesen, das änderte sich erst wieder mit Silvester. Tja, auch Silvester hatte ich mit Lukas verbringen wollen. Was ich nun ebenfalls abhaken kann.
Seufzend lasse ich mich zurück auf das Kopfkissen fallen und ziehe das weiche Wollplaid über meine Beine. Ich sollte mehr Sport machen – oder überhaupt Sport machen. Von meinem kurzen, strammen Marsch hierher tun mir die Waden weh, als hätte ich einen Ausdauerlauf hinter mir. Doch viel dominanter ist der Krampf in meinem Herzen. Wie nur erkläre ich Johanna und Chiara, dass es schon wieder nicht geklappt hat? Und welche Begründung schustere ich mir selbst zusammen, um nach vorne schauen zu können? Doch diese Gedanken führen ins Leere. Erst nach einigen Minuten tatenlosen Verharrens gelingt es mir, sie zu verscheuchen und mich erneut meinem Handy zu widmen.
J.R.S. Jans Nachnamen hatte Jonas gestern nicht genannt und fragen werde ich ihn nicht danach; es würde ihn nur zu neuen Warntiraden ermuntern. Außerdem kenne ich mich – Jonas gegenüber sitzt meine Zunge locker. Obwohl ich nicht in ihn verliebt bin, vertraue ich ihm zutiefst. Doch in diesem Falle überwiegt meine Vorsicht.
J.R.S. – J. meint also Jan und R. meint River. S. könnte der Nachname sein. Schmidt? Jan Schmidt, das wäre herrlich unspektakulär; in diesem Fall würde es mich nicht wundern, dass er ein volltönendes River als Zusatz braucht. Oh verflucht, ich mag es. River. Kühl und weich. Irgendwie verheißungsvoll. Sehnsucht nach Ferne … Alle Flüsse führen zum Meer, denke ich träumerisch. In Kindertagen haben Johanna und ich jeden Sommer eine Flaschenpost im Fluss versenkt, doch niemals eine Antwort erhalten. Vielleicht sind die Flaschen nur wenige Kilometer abwärts am Ufer hängen geblieben. Oder sie strandeten tatsächlich an einer Insel, weit weg im fernen Ozean und unsere Mädchenschrift war von der Sonne verblasst und nicht mehr zu erkennen.
Jan hat mir nur diese eine Nachricht geschrieben, nachts um halb vier. Eine Warnung? Mahnung? Oder nur eine Provokation? Nun, die hätte er sich auch sparen können. Das wäre die allercoolste Variante gewesen, Herr S. Aber er hat sich die Mühe gemacht, mich auf Facebook zu suchen und mir zwei Zeilen zu hinterlassen. Eine Kontaktanfrage hat er allerdings nicht geschickt und so kann ich keine Inhalte auf seinem Profil lesen. Ich wäre jedoch auch ohne meinen außer Kontrolle geratenen Jagdtrieb von gestern Nacht zu stolz, ihm selbst eine Anfrage zu schicken – und jetzt ist das erst recht undenkbar. Er schreibt mir eine mehrdeutige Nachricht, die sich wie eine Zurechtweisung anhört, will mich aber nicht als Kontakt haben? Ja, es ist eine Provokation, mehr nicht.
Ob ich mal nach ihm googeln soll? Das wäre eine Möglichkeit, unbeobachtet mehr über ihn herauszufinden. »Jan River« gebe ich zögerlich ein. »Jan’s River«, ein Restaurant in den Niederlanden. Und ein Hotel in den USA namens Jan River. Weiter unten folgen Links zu River Phoenix, einem US-Schauspieler, der schon lange tot ist. Auch blond. Auch Straßenjungencharme und Augen, die nach einem tieferen Blick zu fragen scheinen – und trotzdem so anders. Nein, da ist nichts zu finden.
Ich probiere es mit J.R.S. Aha, Firma JRS, Cellulosefasern aus der Natur. Nächster Eintrag: Kanzlei Rossbach-Jansen-Schellewald, nein, so komme ich nicht weiter.
»Jan River … J. River …«, murmele ich vor mich hin und ärgere mich zugleich darüber, dass ich ihm so viel Aufmerksamkeit schenke. »Jay …?« Vielleicht spricht er es englisch aus. »Jay River?«
Als ich diese Variante eingebe, glaube ich nicht wirklich daran, etwas zu finden, denn es ist zu weit hergeholt. Erschrocken werfe ich das Handy ans Fußende des Bettes. Ganz oben in der Ergebnisliste ist ein Foto erschienen, von einem jungen Mann, blond – und halb nackt. Oder ist er sogar ganz nackt? Will ich das, ihn nackt sehen? Ist er das denn überhaupt?
Mit den Zehen schiebe ich das Handy Richtung Knie, bis ich es in einer Verrenkung erreichen kann. Dann drehe ich es auf den Rücken, als könne es jeden Moment zuschnappen. Skeptisch stelle ich meine Augen unscharf und schiele auf das Display.
Das könnte er wirklich sein … Eine Pose ähnlich wie gestern, nur mit den Armen über dem Kopf verschränkt, sodass seine Bauchmuskeln und Rippen hervortreten und der Nabel
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