Vor uns die Nacht
flitzt in erstaunlichem Tempo vor mir über den Sand. Ich muss lächeln, als ich ihm nachsehe, vermischt mit einem Druckgefühl im Hals. So hätte es sein müssen, auch bei mir. Frei laufen. Ich hab das nie erlebt.
Wenn die Krankheit rasch voranschreitet, werde ich es auch meinen eigenen Kindern niemals ermöglichen können – weil ich keine haben werde. Aber ich bin hier und niemand hält mich fest. Heute werde ich nicht sterben. Heute lebe ich.
Mein Lächeln wird freier und gelöster, je mehr Menschen meinen Weg passieren, denn sie erwidern es. So viele freundliche Gesichter, so viele strahlende Augen. Ich spüre ihre Herzen. Erst in der letzten Reihe, zwischen der schäumenden Brandung und den Sandburgen, breite ich mein Strandlaken aus und setze mich mit der Nase im Wind in die Sonne.
Das Mädchen, das vor mir Muscheln auf die Zinnen einer schiefen Burg legt, hält inne und dreht sich zu mir um. Nachdenklich blickt sie mich an, in der unendlichen Gelassenheit kleiner Kinder, die sich weder um Zeit noch um Anstand scheren. Ich halte still, als sie auf mich zugeht, ihre kalten Hände auf meine Knie legt und mir tief in die Augen schaut. Ohne Scheu und Rücksicht erwidere ich ihren Blick, lächelnd, aber direkt. Noch nie fiel es mir so leicht.
»Bist du eine Fee?«, fragt sie mit leiser Stimme und streicht mir sanft über meine Wange.
»Vielleicht. Oder eine Hexe.«
»Eine Hexe? Aber Hexen sind böse«, gibt sie zu bedenken und beginnt, mit einer meiner Locken zu spielen.
»Es gibt auch gute Hexen. Hexe zu sein, ist toll. Man kann alles tun, was man will.«
»Auch fliegen?«
»Ja, auch fliegen. Alles.« Es fällt mir nicht schwer, die Tränen hinunterzuschlucken, denn ihr Lachen lässt jeden Kummer und jede Angst zu einer trügerischen Illusion verkommen.
»Und wenn du tot bist?«
»Dann erst recht. Dann flieg ich jede Nacht über den Himmel und drehe Saltos.«
»Du bist eine liebe Hexe.« Wieder legt sie ihre Hände auf meine Wangen, beugt sich vor und küsst mich auf die Nase. Ich muss lachen, will ihr über den Kopf streichen, doch sie ist schon zurück zu ihrer Burg gerannt, wo ihr Vater sich an einem Tunnel versucht und gar nicht bemerkt hat, dass sie für eine kleine Ewigkeit fort gewesen ist.
Wie im Traum erhebe ich mich, befreie mich von Shirt, Hose und meinen Sandalen und laufe in die Brandung hinein. Die erste Welle wirft mich beinahe um, in der zweiten finde ich meine Balance – die dritte ist ein Kinderspiel. Ich schwimme, bis mein Herz rast und meine Arme und Beine schwer werden, wie an diesem schwülen Nachmittag am Fluss, als ich noch glaubte, unsterblich zu sein.
Wenn ich jetzt einen Schub bekomme, in diesem Augenblick – ja, wenn meine Muskeln mir ihren Dienst versagen und meine Augen erblinden, wird mich keiner retten können. Jede Hilfe käme zu spät.
Aber ich bin glücklich gewesen.
Für niemanden sonst außer für mich alleine.
Mein Lachen wird es ihnen erzählen.
Dein blaues Licht
U nd, heute einen Schatz gefunden?«
Kopfschüttelnd schaue ich aus dem Fenster meines Wohnwagens und verkneife mir eine Boshaftigkeit. Es ist zu schön, seine Stimme zu hören, als mich an giftgetränkten Kontern zu versuchen. Jedes Mal, wenn wir skypen – ohne Bild, nur mit Ton –, fragt er mich das und jedes Mal kann ich ihm keine befriedigende Antwort geben. Es ist mühseliges Stückwerk und wir haben inzwischen eine satte Palette an französischen Flüchen erarbeitet, die wir zum Besten geben, wenn Staub, Wind und Fliegen oder ein neuerlicher Regenguss uns bis auf die Knochen zermürben. Und doch bin ich noch nie in meinem Leben so zufrieden und ausgeglichen gewesen wie in diesen Wochen. Außerdem bin ich dankbar, dass Jan der einzige Mensch ist, der niemals fragt, wie es mir geht.
»Okay, wieder keinen Schatz gefunden. Du enttäuschst mich.« Ich versuche mir sein Grinsen vorzustellen. Gott, wie ich mich darauf freue, ihn wiederzusehen und bei ihm in seiner Küche zu sitzen. »Ich hab heute Spekulatius gekauft.«
»Spekulatius?« Ich muss lachen. »Und das Anfang Oktober.«
»Ich liebe Spekulatius. Ich könnte das ganze Jahr Spekulatius essen, aber dann würde ich fett werden. Ronia.« Er zögert. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, aber …«
»Was? Sag es einfach!«
»Ich möchte in dir sein. Jetzt. Sofort.«
»Oh, Jan …« Meine Knie werden so weich, dass ich mich setzen muss. »Wie soll ich denn jetzt heute Nacht schlafen können?«
»Schlaf. Wir treffen uns im
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