Vor uns die Nacht
Schultern nach vorne, als würden sie zusammengequetscht, und weiß mit dem nächsten vielstimmigen Geschrei der Möwen plötzlich wieder, warum. Es ist keine schlechte Erinnerung, keine traumatische, doch eine beklemmende, im wahrsten Sinne des Wortes.
Sie hatten mich an die Leine genommen, damals, in der Bretagne, Mama und Vater. Am Strand trug ich eine Art Geschirr wie ein junger Hund und daran war eine lange Leine befestigt, die sie entweder an den Sonnenschirm banden oder selbst in die Hand nahmen. Die Gründe dafür muss ich nicht suchen und auch meine Eltern ignorierten die Kritik mancher entsetzter Urlauber hartnäckig: Der Atlantik mit seinen Gezeiten ist ein gefährliches Gewässer, die Klippen sind steil und Fremden kann man niemals trauen. Da ich alles um mich herum vergaß, wenn ich mit Eimer und Schaufel loszog, bot die Leine mir Sicherheit. Ich wehrte mich kein einziges Mal dagegen, denn Mama erzählte mir Schauergeschichten von der Gewalt der Flut, die so schnell ins Land jagen könne, dass man keine Chance habe, sich zu retten. Ich glaubte ihr jedes Wort.
In meiner Jugend, als niemand mich mehr an die Leine nehmen konnte, verfrachtete Vater uns in abgelegene Sporthotels in den Alpen oder kanarische All-inclusive-Anlagen, die wir an keinem einzigen Tag des Urlaubs verließen, weil es dort alles gab, was man brauchte. Bis wir irgendwann gar nicht mehr wegfuhren, da es angeblich zu viel zu tun gab im Pfarrhaus. Meine letzte Reise war die Studienfahrt in der Oberstufe gewesen, zehn Tage Rom; für mich eine Art Paradies und für meine Lehrer eine Gedulds- und Nervenprobe erster Klasse, da ich mich ständig zwischen irgendwelchen antiken Überbleibseln verlor und, wie so oft, nichts mehr sah und hörte, wenn ich mich in ihren Zauber vertiefte.
Aber jetzt will ich nicht zur Erde hinabschauen, sondern auf das Wasser und in den Himmel. Keine Leine, keine Zäune, keine Hotelmauern – aber Hunderte von Menschen, die die gleiche Idee hatten. Weit und hellgrau breitet der Strand sich vor mir aus, bunt gesprenkelt von Sonnenmuscheln, Handtüchern und Luftmatratzen. Ja, was hatte ich mir auch gedacht? Es sind Sommerferien und am Himmel ist kein einziges Wölkchen zu sehen. An keinem einzigen meiner Abende am Fluss war der Kiesstrand so voller Sonnenanbeter gewesen, wie ich es nun erlebe.
Im ersten Moment will ich umkehren und warten, bis es Abend wird und die Menschen sich zerstreut haben. Aber warum verstecken? Hier kennt mich niemand. Keiner von ihnen weiß, was ich tue und dass ich krank bin. Sie kennen weder meine Eltern noch meine Freunde. Ich bin für sie nur eine junge Frau, die einen schönen Tag am Meer verbringen möchte.
Und sie haben recht.
Ich mache mich auf die Suche nach einem Parkplatz und muss eine Weile kreisen, bis ich einen finde, doch schließlich ergattere ich eine Lücke im Schatten eines Baumes und atme durch. »Alles gut«, sage ich mir beruhigend, als mein Herz einen kurzen Hüpfer wagt. In einer kleinen Frühstückspension hinter den Dünen habe ich ein Zimmer für eine Nacht bekommen und konnte sofort einchecken. Und entgegen meines ursprünglichen Plans habe ich doch noch einen Abstecher in die WG gemacht und meine Bikinis und Strandlaken aus dem Schrank gekramt, dazu etwas Wechselwäsche, Kosmetik-Grundausstattung, Sonnenbrille und Lichtschutzfaktor 30 eingepackt. Anschließend schrieb ich Jonas eine kurze Nachricht: »Bin für zwei Tage in Holland, Jan hat mir sein Auto geliehen. Bis bald.« Sich zu überlegen, was man will, und es durchzuziehen, ist sicher eine großartige Sache, aber ich muss es deshalb nicht auf die gleiche radikale Weise wie Jan tun und meine Umwelt dabei in Panik versetzen. Es ist revolutionär genug, weder Mama noch Vater Bescheid zu sagen.
Dass ich hier einen Schub erleiden könnte, verdränge ich, doch selbst wenn meine Gedanken diese Vorstellung streifen, kommt sie mir absurd vor. Ich fühle mich wohl. Ich bin müde, aber klar im Kopf; ohne jegliche Schwere in den Armen und Beinen. Meine Augen sehen überdeutlich scharf.
Ich trinke ein paar Schlucke, esse den Rest des Croissants, das ich mir auf halber Strecke an einer Tankstelle gekauft habe, und versuche mich auf die vielen Menschen einzustimmen. Hier gibt es keine Abgeschiedenheit. Ich muss mitten ins Getümmel.
Sobald ich auf den kleinen Trampelpfad zum Strand hinunter einbiege, nehme ich die Kinderstimmen wahr, die sich in das Kreischen der Möwen mischen, und ein kleiner, splitternackter Junge
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