Vor uns die Nacht
parat«, witzelt Jan und wartet geduldig, bis auch dieser Tränenschwung vorüber ist. Der nächste kommt bestimmt. Doch mein Bauch fühlt sich nicht mehr so eng und wund an. »Ich muss gleich los. Laufstegjob in Mannheim. Soll ich dich unterwegs bei dir absetzen? In der Bullen-WG?«
»Gott, ich hab das so satt!«, schimpfe ich unvermittelt los. »Pfarrhaus, WG, Uni, Fluss – das ist mein Leben und nirgendwo fühlt es sich richtig an! Es hat so winzige Zirkel, ich will da raus! Ich hab überhaupt kein Zuhause mehr! Noch nie gehabt. Das Pfarrhaus war nie mein Zuhause.«
»Zuhause ist, wo der Arsch ist. Ich weiß, wovon ich rede, das kannst du mir glauben. Du musst deinen GM erst mal richtig kennenlernen, dann wirst du dich überall zu Hause fühlen.«
»GM?«, frage ich verständnislos.
»Glutaeus maximus. Größter Muskel des Körpers.« Er gibt mir einen kleinen Klaps auf den Hintern, während er mir in die Höhe hilft und mich zurück auf den Stuhl schiebt. »Und ich muss meinen jetzt auf Hochglanz bringen. Bleib sitzen und ruh dich aus, bis ich fertig bin.«
Weil ich neuerdings gerne das Gegenteil von dem tue, was man mir sagt, stehe ich auf und schraube die restlichen Gläser zu. Ich müsste das Johanna erzählen – dass Jan zwischen Schule und Laufsteg Stachelbeermarmelade kocht. Sie würde jauchzen vor Freude. Das Schöne dabei ist: Nun kann ich es ihr erzählen, und auch, dass sie mit ihrem Bauchgefühl recht hatte. Nur wusste sie nicht, welch traurige Geschichte sich dahinter verbergen würde. Aber endlich kann ich über Jan und mich sprechen. Ein glücklicher Gedanke.
»Kommst du klar?«, fragt er, als er eine halbe Stunde später mit seinem VW Golf vor der WG hält und mir die Tür öffnet. Er klingt äußerst unbesorgt. Irgendwie finde ich es gut.
»Wird schon. Es ist nur … es ist plötzlich so viel Raum da. Vor mir. Ich weiß gar nicht, wie ich ihn füllen soll.«
Anstatt zu antworten oder mich zu küssen, stupst er mich mit der Faust zärtlich auf meine Nase.
»Ciao, Räubertochter.«
Das gigantische »Und jetzt?« in mir, das mit jedem Schritt die Treppe hinauf mächtiger wird, zerspringt auf einen Schlag, als ich die WG-Küche betrete und die beiden miteinander sehe – Josy und Jonas. Sie sitzt auf seinem Schoß, verborgen hinter ihrem dunklen, glatten Haarvorhang, während er ihren Hals küsst und ihr lächelnd etwas ins Ohr flüstert. Zuerst bemerkt sie mich, dann er, und sie schauen mich an, als habe ich sie bei etwas Verbotenem ertappt.
»Ist okay, tut mir leid, dass ich gestört habe, ich bin schon wieder weg.«
»Nein, Ronia, bitte, bleib doch, wir dachten …« Schon auf halber Strecke zu meinem Zimmer hat Jonas mich eingeholt. »Wir dachten, du bist bei deinen Eltern. Hast du geweint?«
Von Johanna nehme ich keinen Mucks wahr, doch mir ist klar, dass sie uns hört. Sie traut sich nur nicht zu mir.
»Hast du es gewusst? Mit meinem Brüderchen?«, frage ich ohne Umschweife. Ich bin der Versteckspielchen überdrüssig. »Und dass es bei allem immer darum ging, dass ich in Mamas Nähe bleibe? Auch bei Jan?«
Ein Blick in Jonas’ Augen genügt als Antwort.
»Du solltest es doch nie erfahren. Wir wollten dich davor bewahren.«
»Ihr. Du und meine Eltern. Was ist mit dir und mir, mit uns beiden?«
Betreten schaut er auf seine Füße. »Ich dachte wirklich, er ist nicht gut für dich. Jan. Ehrlich.«
»Jonas, ich bin nicht böse, auch nicht wegen Johanna und dir, ich will das sogar, nur bitte tu mir einen Gefallen: Such einen Mieter für mein Zimmer. Ich will hier nicht mehr wohnen, wenn ich zurück bin.« In diesem Augenblick ist mein Entschluss gefallen. Es geht nicht. Auch von Jonas brauche ich Abstand. Er war nur der Vollstrecker, der meiner Eltern – er hatte wie sie beste Absichten, doch es ändert nichts an dem deutlichen Signal meiner inneren Stimme. Nach Jan will ich gar nicht erst fragen. Ich gehe davon aus, dass Jonas mit seinen Schauergeschichten maßlos übertrieben hat, ebenfalls im Sinne meiner Eltern. Wahrscheinlich gab es kein einziges echtes Indiz dafür, dass Jan in der Callboyszene unterwegs war. Und ich naives Ding hab es beinahe geglaubt.
»Zurück wovon? Musst du in eine Klinik? Oder gehst du wieder zu deinen Eltern?« Jonas wagt nicht, mich zu berühren. Er tritt sogar einen halben Meter rückwärts.
»Keins von beidem. Ich fahr nach Frankreich, Forschungssemester. Eine Ausgrabung. In drei Tagen. Und danach?« Ich hebe meine Hände und lasse sie
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