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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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das hab ich an seinem Mund gesehen.«
    »Zu sensibel?« Meine Stimme quietscht vor Empörung. »Zu sensibel, was soll das denn bitte heißen?«
    »Er war dir nicht gewachsen.« Mama lächelt mich beschwichtigend an. »Ronia, dein Vater und ich sehen das nicht so, aber du weißt selbst, dass du nicht einfach bist.«
    Oh Herr im Himmel, nun auch noch dieser überflüssige Hinweis. Nicht einfach. Ich hab noch nie einen einfachen Menschen kennengelernt – und schon gar keinen einfachen Mann.
    »Liebling, ich meine das nicht abwertend! Aber vielleicht … vielleicht sagst du in Zukunft nicht immer sofort, was du denkst, und lässt sie auch mal gewinnen. Verstehst du? Man sollte ihnen nie zu sehr zeigen, was man auf dem Kasten hat.« Mama zwinkert mir verschwörerisch zu, was ihr gar nicht steht. Ich kann kaum glauben, was sie sagt.
    »Du rätst mir, mich dumm zu stellen, Mama? Das kann nicht dein Ernst sein.«
    Nun zuckt auch sie mit den Schultern, ohne zu antworten, streicht mir dabei aber tröstend über die Wange. Ich drehe mein Gesicht weg. Keine Zärtlichkeiten heute Abend.
    Das Fatale ist – ich glaub, sie hat recht. Er hat es ja selbst angedeutet, als er Schluss machte. »Du bist halt so extrem.« Ja, das hat er gesagt, dass ich extrem sei. Möglicherweise extrem schlau oder extrem geschickt im Diskutieren oder extrem stur, sicher meinte er weder extrem hübsch noch extrem sexy. Das hätte er tolerieren können. Idiot. Doch am meisten verstörte mich, dass ich diesen Mann, der da vor mir stand und sich so vernünftig und unnahbar gab, plötzlich nicht mehr kannte. Er war ein anderer geworden. Oder ich hatte ihn nie richtig gesehen. Diesen Mann, den ich nun sah, wollte ich eigentlich gar nicht mehr in meiner Nähe haben.
    »Es hat eben nicht jeder das Glück, mit zwanzig seinem Traummann zu begegnen«, spiele ich bibbernd auf die perfekte Ehe meiner Eltern an, die jenseits aller normalen Beziehungsfallen zu blühen scheint, und stopfe meine Hände in die Manteltaschen. Wie meistens an Weihnachten ist es nicht besonders kalt, aber es beginnt zu nieseln und ein ungemütlicher Wind bläst über den Kirchvorplatz. Seine Böen erreichen sogar die geschützte Nische, in der wir wie zwei Sündiger stehen und gedämpft tuscheln, während Vater damit beschäftigt ist, Hände zu schütteln. Plötzlich kann ich das alles hier nicht mehr ertragen, habe sogar den Wunsch, mir die Finger zu waschen, wenn ich an all die vielen fremden Menschen denke, die sie berührt haben.
    »Du wirst deinen Traummann treffen, bestimmt. Vielleicht bist du ihm sogar schon begegnet und weißt es nur noch nicht.« Wieder ein Zwinkern – doch das hätte Mama sich sparen können, ich hab ihre Anspielung auch ohne künstlichen Gesichtskrampf verstanden. Jonas. Natürlich, sie meint Jonas, der es vermutlich auch schon weiß und mich suchen wird, um mich zu trösten. Doch dann werde ich mich erneut fragen müssen, warum ich ihm gegenüber nicht das fühle, was er schon lange empfindet – und alles dreht sich wieder in seinem ewigen, unverständlichen Kreis.
    »Ich geh noch in die Stadt, Mama. Kann spät werden.«
    »Jetzt? Aber … Ronia, morgen ist doch …«
    »Ja, das Helfertreffen, ich weiß. Keine Sorge, ich werde da sein. Wie immer.«
    Ich hab keine Ahnung, wie ich es durchstehen soll, von all dem falschen Lächeln und dem Nicht-Weinen tut mir mein Gesicht jetzt schon weh. Vielleicht sollte ich mich betrinken, denke ich, als ich die Kirche hinter mir gelassen habe – und dazu meine ratlosen Eltern. Mit einem Kater lässt sich manches besser ertragen als nüchtern, weil dann die einzige Sorge ist, die hämmernden Kopfschmerzen auszulöschen und nicht zu spucken. Außerdem habe ich seit Stunden nichts gegessen und vertrage ohnehin kaum mehr als ein Bier oder ein Glas Wein. Es wird schnell gehen und kaum etwas kosten – und es ist besser, als sich der Tatsache zu stellen, schon wieder sitzen gelassen worden zu sein. Führt das Schicksal eigentlich Liste? In meinem Kopf ist sie bereits fest eingebrannt – diese beschämende Liste meiner gescheiterten Beziehungen, auf die heute Abend wieder ein neuer Eintrag gesetzt wurde.
    Trotz des Regens nehme ich sämtliche Umwege, die mir einfallen, all die schmalen Gassen, die ich früher gelaufen bin, um meinen Schulweg so oft wie möglich zu variieren, doch dieses Mal tue ich es, um Jonas abzuschütteln. Wir werden miteinander sprechen müssen, wenn er mich findet, und das werden wir nicht tun können,

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