Vor uns die Nacht
Zeit?« Ich wusste es nicht. Und er begann, an mir vorbeizuschauen. Als enthielten meine Augen pures Gift.
»Ich will jetzt da runter«, beende ich die Diskussion, denn sie führt zu nichts. Je länger wir darüber reden, desto stärker werden meine Zweifel an mir und meiner Beziehungsfähigkeit. Keine einzige meiner Bindungen hielt länger als drei Monate. Ich kann gar nicht mehr genau sagen, ob es mir bei Lukas überhaupt um ihn als Mann ging oder um den verzweifelten Versuch, das hinzukriegen, was andere auch schaffen. Denn ich fühle mich zwar bestraft und erniedrigt, doch ich vermisse ihn nicht. Nein, das war keine Liebe, sondern ein Irrtum, also braucht es auch keinen Liebeskummer. Und erst recht kommt nicht infrage, dass ich Jonas für einen weiteren Beziehungsversuch missbrauche und er nach drei Monaten ebenfalls die Flucht ergreift. Dann hätte ich nicht nur einen zusätzlichen Eintrag auf der Liste, sondern meinen besten Freund verloren. »Wirklich da runter?«, hakt Jonas zweifelnd nach, als ich die schmierige Klinke herunterdrücke.
»Ja.« Heute Abend darf es keine schöne Kneipe sein. Mich zieht es in ein abgerissenes Ambiente. Das Outback ist wie geschaffen für frustrierte Heiligabend-Suffs.
»Ich weiß nicht, ich …« Jonas sieht kritisch an sich herunter. »Keine Ahnung, ob ich … hm.«
»Ich wollte sowieso alleine hineingehen.«
»Kommt nicht infrage. Es ist nur … Ach, egal, ich bin in Zivil und hab frei.« Ah, ich verstehe, er hat Angst um seinen guten Ruf als nettester Polizeibeamter der Stadt. Ich verdränge es immer wieder – dass er tatsächlich, wie damals großspurig im Sandkasten angekündigt, Bulle geworden ist. Manchmal erschrecke ich noch, wenn er mit Pistolenhalfter um die Schulter in der WG-Küche steht und sich eine Suppe kocht. Dabei versucht er, dem positiven Polizisten-Image als Freund und Helfer nachzukommen, wo es nur geht, und schafft es, selbst den aggressivsten Besoffenen binnen kürzester Zeit friedlich zu stimmen. Es müsste mehr Polizisten wie Jonas auf dieser Welt geben.
»Dann komm.« Aufrecht und forschen Schrittes geht er voraus, stößt die schwere Tür auf und klettert die steile Stiege hinunter. Rauch und abgestandene Luft schlagen uns entgegen, dazu dröhnt die Musik mit jedem Schritt abwärts lauter. Auf den Treppenstufen stehen rechts und links je ein flackerndes Teelicht, die einzige Erinnerung daran, dass Weihnachten ist. Ich war längere Zeit nicht mehr hier gewesen, doch die Kneipe präsentiert sich mir unverändert. Lukas mag das Outback nicht, zu schmuddelig. Wir hatten gemeinsam Studentenfeten besucht oder uns in schicke Bistros gesetzt. Doch nun fühle ich mich in dem undurchsichtigen Dämmer einer Raucherkneipe mehr zu Hause als an jedem anderen Platz.
Mit einem großen Schritt überhole ich Jonas und steuere die kleine, tiefer gelegene Tanzfläche an. Ich habe gesehen, dass mein Lieblingsplatz frei ist, ein schwarzer Sitzwürfel gegenüber der zweiten Treppe, die in einem Umweg und an den Toiletten vorbei zum Ausgang führt. Von diesem Würfel aus hat man die Tanzfläche und den DJ im Blick und muss sich den ganzen Abend keinen Zentimeter von der Stelle bewegen, ohne etwas zu verpassen.
Genau das werde ich tun. Sitzen bleiben und trinken, bis ich so daneben bin, dass ich nach Hause stolpern und schlafen kann.
Eine Weile verharre ich regungslos, den Hinterkopf an die schwarz gestrichene Wand gelehnt, die Augen geschlossen. Nur ab und zu nippe ich an dem Cocktail, für den ich mein Weihnachtsgeld angebrochen habe. Fünfzig Euro von Vater, wie jedes Jahr. Früher hab ich es in Büchern und CDs angelegt.
Jonas bleibt neben mir, ohne mich in meinem Rückzug zu stören, doch beim dritten tiefen Zug aus meinem Strohhalm merke ich, wie er sich plötzlich anspannt. Schläfrig öffne ich meine Augen. Die Tanzfläche hat sich belebt, doch Jonas’ Aufmerksamkeit liegt woanders – weiter oben, am Geländer der Treppe.
Nun spürt Jonas, dass ich seinen Blicken gefolgt bin. Er wendet seine Augen wieder ab, als sei sein Starren Zufall gewesen. War es aber nicht. Denn auf dem Geländer sitzt der interessanteste Entwurf Mensch, der mir seit Langem begegnet ist.
Es erfordert sicher einiges an akrobatischem Geschick, sich auf diese schmale Geländerstange zu drapieren, dabei cool rüberzukommen und sich nicht gleichzeitig die Eier zu quetschen. Entweder hat er das zu Hause trainiert oder er ist ein Poser-Naturtalent. Doch er sitzt nicht nur einfach da,
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