Vor uns die Nacht
ohne auch über uns zu sprechen.
Leider bleibt mein Unterfangen ohne Erfolg. Ein paar Meter vor dem Eingang meiner liebsten und auch verrauchtesten Stammkneipe wartet Jonas wie ein Schutzpatron auf mich, bereit, mich sanft abzufangen und mit dem zu konfrontieren, was ich doch so verzweifelt zu vergessen versuche.
»Da bist du ja. Er hat dich verlassen, oder?«
»Wenn ich diesen Satz heute Abend noch einmal höre, schreie ich!«
»Du schreist jetzt schon. Hey, Kleine, es tut mir leid, ehrlich.« Wie perfekt er aussieht. Schick, aber nicht zu schick, immer noch kneipenfähig, doch gleichzeitig edel genug, um ihn auch mitten in der Nacht einer potenziellen Schwiegermutter vorzustellen. Dunkler Mantel, dunkle Jeans, den gestreiften Schal lässig gewickelt, der Pullover minimalistisch. Trotzdem regt sich nichts in mir, als ich ihn anschaue. Wie kann das sein? Was stimmt nur nicht mit mir? Kenne ich ihn schon zu lange und bin deshalb nicht mehr fähig, ihn so zu sehen, wie ihn die meisten anderen Frauen sehen würden? Vielleicht gäbe es diese Schicksals-Liste nicht, wenn ich mich in Jonas verliebt hätte. Dann gäbe es nur ihn. Sonst niemanden.
»Tut es dir wirklich leid? Keine Schadenfreude?«
Meine Frage ist überflüssig, ich weiß, dass er keine Schadenfreude empfindet.
»Natürlich freue ich mich nicht. Ich mach mir Sorgen um dich. Ehrlich.«
»Hat sie dich geschickt? Mama? Hat es sich etwa schon herumgesprochen?«
Lächelnd schüttelt er den Kopf und greift nach meinem Arm, um mich zur Seite zu schieben, bevor die drei angetrunkenen Männer hinter uns mich im Vorbeigehen rempeln können.
»Ich hab’s mir gedacht. Ronia – vielleicht …« Er zögert, um nach den richtigen Worten zu suchen. Eigentlich mag ich das an ihm, dieses Bedachte, Umsichtige, aber jetzt macht es mich nervös. »Gib nicht immer so schnell alles. Du hättest nicht so schnell so viel geben dürfen. Du machst das immer wieder, das ist nicht gut. Ich hab dir das schon so oft gesagt.«
»Ich bin kein Flittchen, falls du das meinst.«
»Flittchen …« Sein Lächeln entschwindet. »Ich meine nicht das. Ich meine dein Herz.«
»Ach, mein Herz.« Schniefend ziehe ich die Nase hoch.
»Du wirst drüber hinwegkommen, Ronia. Du wirst ihn vergessen.«
»Aber das ist es doch gerade!«, ereifere ich mich wütend. »Genau das ist das Erbärmliche an diesem Spiel! Ja, ich werde darüber hinwegkommen, ich werde mich wieder verlieben und wieder werden die gleichen Dinge gesagt, wieder schleichen sich all diese Gefühle hinein – ich will das nicht mehr, auch nicht dieses Darüberhinwegkommen! Was ist es denn dann überhaupt wert, wenn man immer wieder darüber hinwegkommt? Ich hab dieses Spiel so satt!«
»Bisschen leiser, bitte. Ronia … Du redest daher wie eine Achtzigjährige. Du bist doch noch so jung«, versucht Jonas mich zu beruhigen, doch er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass er mir jetzt besser nicht zu nahe kommt.
»Mag sein, aber das war bereits Nummer vier, nicht mitgezählt all die Beinahe-Beziehungen, die gar nicht erst zustande kamen, obwohl sie sich im Balztanz beinahe das Rückgrat gebrochen haben. Was soll das? Warum macht ihr das?«
»Ich mache das nicht«, stellt Jonas mit sonorer Stimme klar. »Da fragst du den Falschen.«
»Aber du …« Bedauernd breche ich ab und blicke auf den schmutzigen Asphalt. »Es tut mir leid. Ich wünschte, es wäre anders, glaub mir. Aber du bist nicht der Richtige. Für alle anderen, aber nicht für mich.«
»War er es denn?« Wieder müssen wir zur Seite weichen, weil ein Trupp fröhlich plappernder Nachtschwärmer an uns vorbei zur Kneipe drängt. Wie ruhig Jonas bleibt, obwohl ich so ehrlich bin. Tun ihm meine Worte nicht weh?
»Ich dachte, dass er der Richtige ist. Ja. Hat doch alles gepasst«, antworte ich trotzig. Zumindest hatte ich mir das eingebildet … Lukas kommt aus einer guten Familie, studiert wie ich, spielt ein Instrument, hat vielseitige Interessen, ist attraktiv (abgesehen von seiner Nase, aber das fand ich verzeihlich). Wir konnten uns gut unterhalten, hatten Spaß, wenn wir miteinander ausgingen, hegten ähnliche Vorstellungen von der Zukunft und unserem Leben. Was hätte denn mehr stimmen sollen? Und trotzdem – gestern Nacht, nachdem wir miteinander geschlafen hatten, schlich sich mir ein mulmiges Gefühl in den Bauch und eine unbeantwortbare Frage in den Kopf: »Was jetzt? Was machen wir morgen, übermorgen, überübermorgen? Was tun wir mit all dieser
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