Vorsatz und Begierde (German Edition)
wichtig sein soll. Das einzige, woran ich mich noch erinnere, ist, daß man den Leuten auch die andere Wange hinhalten soll, und das sehe ich nicht ein. Das ist doch bekloppt. Wenn mir jemand auf die linke Wange haut, schlage ich ihm eine auf die rechte, aber noch fester. Ich weiß noch, daß sie ihn gekreuzigt haben. Folglich hat es ihm nicht viel gebracht. Das hat man davon, wenn man den Leuten auch die andere Wange hinhält.«
»Irgendwo muß hier eine Bibel rumliegen«, sagte er. »Wenn du willst, kannst du dich über ihn informieren. Du könntest mit dem Markus-Evangelium anfangen.«
»Danke. Das im Heim hat mir gereicht.«
»In was für einem Heim?«
»In einem Heim halt. Bevor das Kind zur Welt kam.«
»Wie lange warst du da?«
»Zwei Wochen. Zwei beschissene Wochen zu lang. Dann bin ich abgehauen und irgendwo untergekrochen.«
»Wo?«
»In Islington, Camden, King’s Cross, Stoke Newington. Ist das so wichtig? Jetzt bin ich hier, okay?«
»Ich find’s okay, Amy.«
Er hing seinen Gedanken nach und vergaß beinahe, daß er ja die Info-Blätter falten sollte.
»Wenn du mir schon nicht mit den Kuverts helfen willst«, nörgelte Amy, »könntest du wenigstens im Wasserhahn die Dichtung auswechseln. Er tropft schon seit Wochen, und Timmy rutscht in dem Morast immer wieder aus.«
»Geht in Ordnung«, sagte er. »Mach ich.«
Er holte seinen Werkzeugkasten aus dem hohen Wandschränkchen, wo er ihn außerhalb Timmys Reichweite aufbewahrte. Er war froh, den Wohnwagen verlassen zu können. Seit einiger Zeit kam er sich darin wie eingesperrt vor. Draußen sagte er noch ein paar Worte zu Timmy, der in seinem Laufställchen keinen Unfug anrichten konnte. Neil hatte mit Amy am Strand große Kiesel gesammelt, und zwar vornehmlich solche, die ein Loch hatten. Die hatte er an einer festen Schnur an die Längsseite des Laufställchens gehängt. Stundenlang konnte Timmy damit spielen. Mit glücklichem Gesichtsausdruck schlug er die Steine gegeneinander, gegen die Gitterstäbe, oder er versuchte, wie jetzt, einen der Steine in den Mund zu stecken. Manchmal redete er mit einem bestimmten Kiesel, plapperte mit ernster Miene auf ihn ein, um dann plötzlich triumphierend aufzujauchzen. Neil kniete nieder, hielt sich an den Gitterstäben fest, rieb seine Nase gegen die Timmys und wurde mit einem breiten, herzerweichenden Lächeln belohnt. Timmy ähnelte seiner Mutter – der gleiche runde Kopf, der gleiche schlanke Hals, der gleiche hübsch geformte Mund. Nur die weiter auseinanderstehenden Augen waren anders. Sie waren groß und blau. Darüber zogen sich gerade, dichte Brauen, die Neil an blond schimmernde, putzige Raupen erinnerten. Er hatte zu dem Kind eine Zuneigung gefaßt, die seiner Liebe zu Timmys Mutter in nichts nachstand. Er konnte sich ein Leben auf der Landzunge ohne die beiden nicht mehr vorstellen.
Beim Wasserhahn aber mußte er kapitulieren. Auch wenn er an der Kombizange noch so sehr riß, die Achtkantmutter rührte sich nicht. Selbst diese geringfügige Reparatur schien seine Kräfte zu überfordern. Er hörte schon Amys spöttische Stimme: »Du möchtest die Welt verändern und kannst nicht mal eine Dichtung auswechseln!« Nach einer Weile gab er es auf, ließ den Werkzeugkasten an der Cottage-Mauer stehen und ging zur Steilhangkante, von wo aus er zum Strand hinabrutschte. Die Kiesel knirschten unter seinen Füßen, als er zum Wasser ging und mit einem Ruck die Schuhe auszog. Wenn ihn die Beklommenheit über seine fehlgeschlagenen ehrgeizigen Pläne, über seine unsichere Zukunft allzusehr bedrückte, kam er am Strand wieder mit sich ins reine. Er blieb regungslos stehen und sah dem Ansturm der sich heranschlängelnden, schimmernden Wellen zu, die sich aufschäumend zu seinen Füßen brachen, er beobachtete die dahingleitenden Wasserzungen, die über den feinen Sand huschten, zurückwichen und nur einen flüchtigen, gischtigen Saum hinterließen. Heute jedoch hatte dieses unablässige Spiel nicht die übliche Wirkung auf ihn. Er schaute, ohne etwas wahrzunehmen, in die Ferne und dachte an sein gegenwärtiges Leben, an seine düstere Zukunft, an Amy, an seine Familie. Als er die Hand in die Tasche steckte, spürte er den zerknitterten Umschlag mit dem letzten Brief seiner Mutter.
Ihm war bewußt, daß seine Eltern von ihm enttäuscht waren, obgleich sie es ihm nie offen sagten, da Anspielungen ja ebenso wirksam waren. »Mrs. Reilly fragt mich immer: Was treibt denn Ihr Neil so? Ich kann ihr doch
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