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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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zeitweiliger Notbehelf sei, daß er sich erst schlüssig werden müsse, ob er die Wohnung im Barbican-Block als Hauptwohnsitz behalten oder verkaufen und dafür ein Haus in Nordwich und ein Apartment in London erwerben sollte. Im Grunde war er ein Stadtmensch. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er sein Leben nicht in einer Stadt verbringen würde. Wenn er die Stellung erhielt und wieder nach London zog, würde sie sich ihm nicht anschließen. Er erwartete es auch nicht. Hier an dieser meerumtosten Küste hatte sie endlich ein Domizil gefunden, das sie ihr Heim nennen konnte. Es gehörte ihr, mochte er auch unangemeldet kommen und wieder gehen.
    Es mußte nach 1 Uhr gewesen sein, dachte sie und trank einen Schluck Tee, als er von Hilary Robarts zurückkehrte, die er heimgebracht hatte. Was mochte ihn so lange aufgehalten haben? Da sie nach Mitternacht nur einen leichten Schlaf hatte, hatte sie das Klirren des Hausschlüssels im Schloß gehört, seine Schritte auf der Treppe, und war dann wieder eingenickt. Jetzt war es bald 5. Er konnte nur ein paar Stunden geschlafen haben. Als bemerkte er erst jetzt, wie kühl es draußen war, schloß er die obere Türhälfte, schob den Riegel vor und setzte sich ihr gegenüber in den Sessel. Er lehnte sich zurück und nahm die Tasse in beide Hände.
    »Es ist schon ärgerlich, daß Caroline Amphlett Larksoken nicht verlassen möchte«, sagte er. »Mir gefällt es gar nicht, daß ich den neuen Posten, ausgerechnet diesen, mit einer unbekannten Assistentin übernehmen muß. Caroline kennt meine Arbeitsweise. Ich war mir so sicher, daß sie mit mir nach London kommen würde. Das ist wirklich unangenehm.«
    Sie vermutete, daß es für ihn mehr als unangenehm war. Sein Stolz, sein persönliches Prestige standen auf dem Spiel. Die meisten Männer in führenden Positionen nahmen ihre persönliche Assistentin mit, wenn sie eine neue Stelle antraten. Das Widerstreben einer Sekretärin, sich von ihrem Chef zu trennen, war ein schmeichelhafter Beweis ihrer guten Zusammenarbeit. Sie konnte seine Verstimmung nachempfinden. Aber das hatte ihn wohl kaum um den Schlaf gebracht.
    »Sie schützt persönliche Gründe vor«, redete er weiter. »Damit meint sie Jonathan Reeves. Was sie nur an ihm findet? Der Mann ist nicht mal ein guter Techniker.«
    Alice Mair verkniff sich ein Lächeln. »Sie wird sich nicht in technischer Hinsicht für ihn interessieren«, meinte sie.
    »Wenn Sex mit im Spiel ist, ist sie weniger wählerisch, als ich vermutete.«
    Im allgemeinen war er ein guter Menschenkenner. Er irrte sich nur selten und schon gar nicht, wenn es um die wissenschaftliche Qualifikation eines Mitarbeiters ging. Aber er hatte kein Verständnis dafür, wie komplex, wie irrational das Verhalten, die Motive der Leute sein konnten. Er wußte, daß das Universum zwar komplex war, aber gewissen Regeln gehorchte. Allerdings hätte er den Ausdruck »gehorchen«, in dem eine bewußte Entscheidung mitschwang, nicht verwendet. So verhält sich nun mal die Welt der Physik, hätte er gesagt. Sie läßt sich vom menschlichen Verstand entschlüsseln und im begrenzten Ausmaß auch steuern. Menschen machten ihn unsicher, weil sie voller Überraschungen steckten. Aber noch mehr Unbehagen bereitete ihm die Tatsache, daß er gelegentlich sich selbst verblüffte. Er hätte sich im sechzehnten Jahrhundert im elisabethanischen England wohl gefühlt, als man die Menschen nach ihrem Naturell einteilte: Menschen waren cholerisch, melancholisch, merkurisch oder saturnisch, zeigten Lebensstimmungen, die den Stand der Planeten bei ihrer Geburt widerspiegelten. Wenn das einmal feststand, wußte man, wie und was man war. Es erstaunte ihn immer wieder, daß sich jemand beispielsweise bei der Arbeit als verständiger, verläßlicher Wissenschaftler erwies, aber zum Narren wurde, wenn Frauen ins Spiel kamen, oder daß jemand in einem Lebensbereich sinnvoll agieren konnte, in einem anderen jedoch wie ein unvernünftiges Kind handelte. Nun war er verärgert, weil seine Sekretärin, die er als intelligent, einfühlsam, ihm ergeben eingeschätzt hatte, in Norfolk bleiben wollte – bei ihrem Liebhaber, einem Mann, den er verachtete –, statt ihm nach London nachzufolgen.
    »Hast du nicht mal gesagt, daß Caroline in sexueller Hinsicht abweisend ist?« fragte sie.
    »Hab ich das? Kann ich mir nicht denken. Das würde persönliche Erfahrungen voraussetzen. Ich habe gesagt, ich könnte mir nicht vorstellen, daß ich sie einmal als

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