Vorsatz und Begierde (German Edition)
eingebildet.«
Sie gingen leise durch das büschelige Gras weiter und betraten die Ruine. Doch da war nichts zu sehen. Wortlos stiegen sie durch die Lücke unter dem Ostfenster und erreichten die Kante des Steilhangs. Nach Norden und Süden zu lag vor ihnen im fahlen Mondlicht der Strand, den feine weiße Schaumkronen begrenzten. Sollte jemand hier gewesen sein, dachte Dalgliesh, dann hatte er sich längst hinter einem der Bunker oder in einer Einbuchtung des sandigen Hangs versteckt. Außerdem gab es keinen Grund, nach der Person zu suchen, selbst wenn sie gewußt hätten, in welcher Richtung sie geflüchtet war. Schließlich hatte jedermann das Recht, nachts allein am Strand zu wandeln.
»Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet«, wiederholte Meg Dennison. »Aber ich glaube es nicht. Jedenfalls ist sie verschwunden.«
»Sie?«
»Habe ich’s denn nicht gesagt? Ich war mir ganz sicher, ich hätte eine Frau gesehen.«
14
Es war gegen 4 Uhr früh, als Alice Mair mit einem entsetzten Aufschrei aus ihrem Alptraum erwachte. Der Wind war stärker geworden. Sie knipste die Nachttischlampe an, schaute auf die Uhr und lehnte sich zurück. Ihre Panik verebbte. Sie schaute zur Decke empor und merkte, wie die schrecklichen Bilder allmählich verblaßten, jener immer wiederkehrende Nachtmahr, den die Ereignisse des vorangegangenen Abends ausgelöst hatten, aber auch das Wort »Mord«, das wie ein Flüstern in der Luft zu liegen schien, seitdem der Whistler sein Unwesen trieb. Langsam fand sie in die Wirklichkeit zurück, registrierte die Geräusche der Nacht, das Klagen des Windes im Kamin, die Glätte des Bettuchs in ihrer verkrampften Hand, das unnatürlich laute Ticken der Uhr, den fahlen Lichtschimmer im Fenster, die zurückgezogenen Vorhänge, den bläßlich schimmernden Sternenhimmel.
Über die Bedeutung des Alptraums brauchte sie nicht lange nachzudenken. Es war die neue Fassung eines vertrauten Schreckensbildes gewesen, nur weniger grauenhaft als die Träume ihrer Kindheit – ein Bild der tiefen, vom Verstand durchdrungenen Ängste einer Erwachsenen. Sie und Alex waren wieder Kinder gewesen. Aber sie wohnten mit den Eltern bei den Copleys im Alten Pfarrhof. Bei einem Traum war das nicht verwunderlich; der Alte Pfarrhof war ja nur etwas größer, wenn auch minder stattlich als Sunnybank (ein sonderbarer Name für ein Haus, das auf flachem Gelände stand und durch dessen Fenster nur selten ein Sonnenstrahl drang). Beide stammten aus der spätviktorianischen Zeit, solide Bauten aus rotem Ziegel, hatten eine schwere, gewölbte Haustür unter einem hohen, spitzgiebligen Vorbau, beide lagen abgeschieden und waren von einem Garten umgeben. Im Traum war Alice mit ihrem Vater durch das Strauchwerk gegangen. Ihr Vater hatte seine Hippe mitgenommen und war bekleidet wie an jenem grauenvollen Herbstnachmittag – mit einem durchgeschwitzten Unterhemd und so knappen Shorts, daß sich beim Gehen der Hodensack abzeichnete. Die weißen Beine bedeckte von den Knien abwärts kräuseliges schwarzes Haar. Sie wollte nicht mit ihm gehen. Sie wußte, die Copleys warteten nur darauf, daß sie endlich den Lunch zubereitete. Mr. Copley, der eine Soutane und ein wallendes Chorhemd trug, ging schon ungehalten auf dem rückwärtigen Rasen hin und her und tat so, als würde er sie nicht bemerken. Ihr Vater erklärte ihr etwas mit lauter Stimme. Es war derselbe überhebliche Ton, den er auch gegenüber ihrer Mutter anschlug, so, als wollte er sagen: »Ich weiß doch, daß du zu dumm bist, all das zu verstehen. Aber ich sage es dir dennoch laut und deutlich und hoffe nur, daß du meine Geduld nicht überstrapazierst.«
»Alex wird die Stellung nicht bekommen«, dozierte er. »Dafür werde ich schon sorgen. Sie werden diese Position keinem Mann anvertrauen, der seinen Vater umgebracht hat.«
Als er das sagte, fuchtelte er mit der Hippe. Alice sah, daß die Spitze rot vor Blut war. Plötzlich stürzte er sich mit böse funkelnden Augen auf sie, holte aus, und gleich darauf spürte sie, wie die Spitze der Hippe ihre Stirnhaut aufschlitzte und ihr Blut in die Augen rann. Auf einmal war sie hellwach, atmete aber noch immer schwer, als sei sie weit gelaufen. Sie strich mit der Hand über die feuchte Stirn und vergewisserte sich, daß es Schweiß und kein Blut war.
An Schlaf war nicht mehr zu denken, wenn sie so früh wach wurde. Sie könnte jetzt aufstehen, den Morgenmantel anziehen, sich unten Tee machen, die Korrekturfahnen lesen, die
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