Vorsatz und Begierde (German Edition)
die alten, ausrangierten Dinge – Kleidungsstücke, allerlei Krimskrams, Bücher, Zeitschriften – gehortet wurden. Mr. Copley las gelegentlich die Messe in der St.-Andrew’s-Kirche, wenn Mr. Smollett, der Vikar, Urlaub machte. Das war eine Beteiligung am kirchlichen und dörflichen Leben, die Mr. Copley, wie Meg vermutete, ebenso wichtig nahm wie die Kirchenoberen. Im allgemeinen steuerten die paar Cottages auf der Landzunge nur wenig zu dem Basar bei, doch brachte Alex Mair, der das AKW der Kirchengemeinde schmackhaft machen wollte, irgendwann eine diesbezügliche Notiz am Schwarzen Brett an, und so waren im Oktober, wenn der Tag des Basars immer näher rückte, die beiden Teekisten meistens wohlgefüllt. Die Hintertür zum Alten Pfarrhof, durch die man in den Waschraum gelangte, war in der Regel tagsüber offen. Nur die Innentür im Haus war verschlossen. Alice Mair hatte an der Vordertür geklopft und sich vorgestellt. Die beiden Frauen waren etwa gleich alt und vom Wesen her zurückhaltend; sie mochten einander auf Anhieb, ohne eigentlich eine freundschaftliche Bindung gesucht zu haben. Die Woche darauf war Meg zum Dinner in Martyr’s Cottage eingeladen worden. Und seitdem verging kaum ein Tag, da sie nicht den halben Kilometer über die Landzunge ging, um mit Alice in deren Küche zu plaudern oder ihr bei der Arbeit Gesellschaft zu leisten.
Ihre einstigen Kollegen hätten ihre Freundschaft unbegreiflich gefunden. Denn was bei ihnen als Freundschaft galt, überbrückte nie die Kluft zwischen den diversen politischen Anschauungen. Zudem verkam eine solche Bindung beim höhnischen Geschwätz im Lehrerzimmer rasch zum Austausch von Klatsch, Gerüchten, Vorwürfen und Bezichtigungen des Verrats. Diese friedvolle Freundschaft mit Alice jedoch, die ihr nichts abverlangte, war frei von Zwängen und Einschüchterungen. Es war keine augenfällige Freundschaft. Keine küßte die andere auf die Wange, keine ließ sich zu einer liebevollen Geste hinreißen. Nur bei der ersten Begegnung hatten sie einander die Hand geschüttelt. Meg hatte keine Ahnung, was Alice an ihr schätzte. Aber sie wußte, was sie an Alice mochte. Alice war intelligent, belesen, nüchtern, besonnen. Sie bildete den Mittelpunkt von Megs Leben auf der Landzunge. Alex Mair sah sie nur selten. Tagsüber war er im AKW, und an den Wochenenden fuhr er zu seiner Wohnung in London, wo er auch öfters einige Tage blieb, wenn er irgendeine Besprechung hatte. Sie hatte nicht das Gefühl, daß Alice sie aus Angst, ihr Bruder könnte ihre Freundin langweilig finden, absichtlich von ihm fernhielt. Trotz all der bitteren Erfahrungen in den vergangenen vier Jahren war Meg tief in ihrem Inneren viel zu gefestigt, als daß sie darin einen gegen sie als Frau gerichteten Affront oder eine gesellschaftliche Zurücksetzung gewittert hätte. Außerdem fühlte sie sich in seiner Gegenwart nicht wohl. Das lag vielleicht daran, daß er – mit seiner Selbstsicherheit, seinem markanten Gesicht, seinem arroganten Auftreten – etwas von der geheimnisumwitterten Macht des Werks ausstrahlte, das er leitete. Wenn sie sich hin und wieder trafen, war er überaus liebenswürdig. Bisweilen gewann sie sogar den Eindruck, daß er sie mochte. Sie begegneten sich zumeist in der Küche von Martyr’s Cottage. Und selbst da fühlte sie sich wohler, wenn er nicht zugegen war. Alice sprach von ihm nur beiläufig. Doch wenn sie die Geschwister wie gestern abend auf der Dinnerparty einmal zusammen sah, kam es ihr so vor, als sei ihre feinfühlige Rücksichtnahme aufeinander, ihr instinktives Verständnis für die Bedürfnisse des anderen eher typisch für eine langjährige, erfolgreiche Ehe denn für eine lockere geschwisterliche Bindung.
Mit Alice hatte sie zum erstenmal seit fast drei Jahren über Martin reden können. Sie konnte sich des Julitages gut entsinnen: Die Tür zum Patio stand offen, und der Duft der Würzkräuter und der Salzhauch des Meeres übertönten sogar den aromatischen Wohlgeruch der frischgebackenen Butterkekse. Sie und Alice saßen einander am Küchentisch gegenüber, zwischen ihnen die Teekanne.
Megs Gedächtnis hatte jedes Wort gespeichert. »Gedankt hat man es ihm nicht«, hatte sie gesagt. »Sicher, man pries seinen heldenhaften Mut. Die Schulleiterin hielt bei der Gedenkfeier eine schöne Rede. Aber die vorherrschende Meinung war, daß die Schüler da nicht hätten schwimmen dürfen. Die Schulleitung fühlte sich für seinen Tod nicht verantwortlich. Man
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