Vorsatz und Begierde (German Edition)
weiterhin auf das schwarzweiße Geflimmer. Wenn erst einmal die Tür zu dem hinten gelegenen Zimmer, das sie mit Anthony teilte, ins Schloß gefallen war, würde er sie nicht mehr stören. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte er das Zimmer, wenn sie sich darin aufhielt, nie mehr betreten, weder tagsüber noch nachts. Theresa hatte festgestellt, daß sich sein Benehmen ihr gegenüber geändert hatte, als sei sie in wenigen Wochen zu einer Frau herangereift. Wie mit einer Erwachsenen beriet er sich mit ihr über die täglichen Besorgungen, die Mahlzeiten, die Anschaffung von Kleidungsstücken für die Zwillinge, ja sogar über die Probleme, die er mit seinem Lieferwagen hatte. Aber er sprach nie über den Tod ihrer Mutter.
Theresas schmale Liegestatt stand unter dem Fenster. Sie kniete sich darauf und schob die Vorhänge zurück. Das Mondlicht ergoß sich bis in die letzten Winkel des Raumes und legte einen kalten, gespenstischen Schimmer über das Bett und den Holzboden. Die Tür zu der kleinen Kammer an der Vorderseite, wo die Zwillinge schliefen, stand offen. Sie ging hinein und warf einen Blick auf die beiden, die aneinandergeschmiegt unter der Bettdecke lagen. Theresa neigte den Kopf und lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen; sie würden bis zum Morgen durchschlafen. Sie schloß die Tür und kehrte in ihr Zimmer zurück. Anthony lag wie immer auf dem Rücken, die Beine gegrätscht wie ein Frosch, den Kopf auf der Seite, beide Arme ausgestreckt, als wollte er die Längsstangen seines Kinderbettchens ergreifen. Er hatte sich freigestrampelt, und sie deckte ihn wieder zu. Die jäh aufsteigende Regung, ihn in die Arme zu nehmen, war so stark, daß es weh tat, sie unterdrücken zu müssen. Sie klappte die Längsseite des Gitters herunter und schmiegte ihre Wange an sein Köpfchen. Er schlief wie betäubt, die Lippen geschürzt.
Sie kehrte zu ihrem Bett zurück und stopfte die beiden Kissen unter die Decke, so daß es aussah, als schliefe jemand darunter. Zwar war es unwahrscheinlich, daß ihr Vater hereinkommen würde, aber sollte es dennoch geschehen, würde sein Blick wenigstens nicht gleich auf ein offensichtlich leeres Bett fallen. Sie zog die leinene Umhängetasche unter dem Bett hervor, die alles enthielt, was sie benötigen würde: eine Schachtel Zündhölzer, eine weiße Haushaltskerze, eine kleines Taschenmesser mit scharfer Klinge und eine kurze Stablampe. Dann stieg sie aufs Bett und öffnete das Fenster.
Die ganze Landzunge war in das silbrige Licht getaucht, das ihre Mutter und sie immer so begeistert hatte. Alles schien verwandelt. Die hervortretenden Felsen glichen Inseln, die über den reglosen Grashorsten dahinschwebten. Die lückenhafte, verwilderte Hecke am unteren Rand des Gartens war ein geheimnisvolles, aus Lichtstrahlen gewobenes Dickicht. Dahinter erstreckte sich endlos das Meer wie ein riesiges Seidentuch. Sie hielt einen Augenblick inne und atmete ein paarmal kräftig durch, bevor sie auf das Flachdach über dem Anbau kletterte. Da es mit Schindeln gedeckt war, bewegte sie sich so vorsichtig wie möglich. Am Fallrohr ließ sie sich die zwei Meter bis zum Boden hinab und huschte dann gebückt zu dem windschiefen Anbau hinter dem Atelier ihres Vaters, wo sie und ihr Vater ihre Fahrräder unterstellten. Das fahle Mondlicht schien durch die offene Tür herein. Sie packte ihr Fahrrad, schob es durch das Gras und hob es dann über die Hecke, die an dieser Stelle niedriger war. Erst als Theresa die tiefer gelegene Schneise, wo einst die Küstenbahn dahingerattert war, erreicht hatte, stieg sie auf ihr Rad und fuhr über das holprige, grasbewachsene Brachland nordwärts zu dem Kiefernwäldchen und der Klosterruine. Hinter den Kiefern war die alte Bahntrasse fast nicht mehr zu erkennen, kaum mehr als eine sanfte Vertiefung im Boden. Die Jahre würden sie bald ganz einebnen, und dann würde nichts mehr, nicht einmal verrottende Bahnschwellen, daran erinnern, wo in viktorianischer Zeit die Küstenbahn dahingedampft war, um erholungsuchende Familien mitsamt Kindern und Kindermädchen, Schaufeln, Eimern und prallgefüllten Schrankkoffern ans Ziel zu bringen.
Zehn Minuten später erreichte Theresa offenes Gelände. Sie schaltete die Radlampe aus, vergewisserte sich, daß niemand zu sehen war, und fuhr dann weiter, dem Strand entgegen. Die Klosterruine mit ihren fünf zerbröckelnden Bögen tauchte vor ihr auf. Theresa blieb abermals stehen und betrachtete sie. Im Mondlicht sah die Ruine unwirklich aus,
Weitere Kostenlose Bücher