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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Spürsinn haben sie schon aufgebracht. Der Wagen war sauber. Er muß sein Zeug anderswo aufbewahrt haben. Wahrscheinlich hat er’s jeden Abend hervorgeholt und dann auf eine günstige Gelegenheit gelauert.«
    Rikkards schaute auf den Stirnreif. »Raffiniert, nicht? Aber seine Mutter sagte schon, daß er geschickte Hände hat.«
    Das einzige, hoch oben angebrachte Fenster war ein blauschwarzes Rechteck, in dem ein Stern funkelte. Es kam Dalgliesh so vor, als hätte er heute seit dem Aufwachen Stimmungen durchlebt, die für ein halbes Menschenleben ausreichten – zuerst die herbstlich kühle Morgendämmerung am Meer, dann der vormittägliche beschauliche Rundgang unter dem steilen Dach von St. Peter Mancroft, später die von verblichenen Photographien längst verstorbener Menschen geweckte Wehmut, hernach das Geplätscher der Meereswellen an seinen bloßen Füßen und schließlich die Bestürzung, als er im Licht seiner Taschenlampe die tote Hilary Robarts erblickte. Es war ein Tag gewesen, der kein Ende nehmen wollte, der die Stimmungen aller Jahreszeiten heraufbeschworen hatte. Die Zeit, die für den Whistler in einem Blutschwall geendet hatte, schien zögerlich verstrichen zu sein. Und nun war er auch noch in diese spießige Hinrichtungskammer geraten, die ihm ein Bild aufdrängte, so deutlich wie eine Erinnerung: Ein magerer Junge liegt rücklings auf demselben Bett und betrachtet denselben einsamen Stern in dem hoch oben angebrachten Fenster, während auf der Kommode die Trophäen des Tages ausgebreitet sind – Trinkgelder in Form von Pennymünzen und Sixpencestücken, Muscheln, Strandkiesel mit bunten Einschlüssen, ein Büschel Seetang, den die Sonne getrocknet hat.
    Dalgliesh war hier, weil Rikkards ihn dazu veranlaßt hatte; er wollte ihn hier in diesem Raum, zu diesem Zeitpunkt um sich haben. Er hätte sich den toten Whistler auch morgen im Leichenschauhaus ansehen können oder – er konnte nicht gut behaupten, er vertrage das nicht – auf dem Obduktionstisch, um sich zu vergewissern, was ohnehin kaum jemand angenommen hatte, daß nämlich dieser schmächtige Frauenmörder da nicht der hochgewachsene Würger von Battersea war, den man nur einmal gesichtet hatte. Aber Rikkards brauchte einen Zuhörer, ihn, Dalgliesh, einen Mann, der erfahren und abgeklärt war, in dessen Gegenwart er sich nach all den Fehlschlägen die Bitterkeit und Enttäuschung von der Seele reden konnte. Fünf Frauen waren tot, und den Mörder hatte man als Verdächtigen zwar vernommen, aber im Zuge der Ermittlungen wieder laufenlassen. Das Gefühl, versagt zu haben, würde länger währen als das Interesse der Medien und die offiziellen Untersuchungen. Und jetzt noch die sechste Tote. Hilary Robarts, die nicht ermordet worden wäre, zumindest nicht auf diese Weise, hätte man den Whistler früher dingfest gemacht. Dalgliesh hatte überdies den Eindruck, daß etwas Persönliches Rikkards’ Zorn schürte, etwas, das über sein berufliches Versagen hinausging, und er fragte sich, ob das möglicherweise mit Rikkards’ Frau und dem erwarteten Kind zu tun haben könnte.
    »Was geschieht nun mit dem Hund?« fragte er.
    Rikkards schien die Belanglosigkeit der Frage nicht aufzufallen.
    »Was denken Sie? Wer nimmt schon ein Tier, das mit ihm das alles mitgemacht hat?« Er schaute auf die langsam erstarrende Leiche hinab, musterte dann Dalgliesh und sagte barsch: »Er tut Ihnen auch noch leid, nehme ich an.«
    Dalgliesh erwiderte nichts. Er hätte sagen können: »Ja, er tut mir leid. Auch seine Opfer tun mir leid. Und Sie. Und hin und wieder ich mir selbst.« Gestern habe ich noch The Anatomy of Melancholy gelesen, dachte er. Es ist schon sonderbar. Robert Burton, der Kleriker aus Leicestershire, der im siebzehnten Jahrhundert lebte, hatte all das ausgedrückt, was sich in einem solchen Moment sagen ließ. Er entsann sich seiner Worte: »Über ihre Besitztümer und ihre Körper können wir verfügen; aber was aus ihren Seelen wird, bestimmt nur Gott allein. Seine Gnade gewährt er inter pontem et fontem, inter gladium et iugulum, zwischen Brücke und Strom, zwischen Schwert und Kehle.«
    Rikkards schüttelte sich, als friere ihn. »Zumindest hat er unserem Land die Unterhaltskosten für die nächsten zwanzig Jahre erspart. Ein Argument dafür, warum wir Menschen seines Schlags am Leben erhalten sollen, statt sie auszulöschen, ist, daß wir von ihnen lernen können, um zu verhindern, daß so etwas abermals geschieht. Aber können wir

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