Vorsatz und Begierde (German Edition)
das wirklich? Wir haben Stafford eingelocht, Brady, Hielson. Wieviel haben wir von ihnen gelernt?«
»Sie würden doch einen Geistesgestörten nicht aufhängen, oder?« erwiderte Dalgliesh.
»Ich würde niemand aufhängen. Ich würde eine minder barbarische Methode anwenden. Aber geistesgestört sind sie doch nicht, oder? Nicht, solange sie nicht gefaßt sind. Bis dahin schlagen sie sich durchs Leben wie die meisten Menschen. Dann stellen wir fest, daß es Ungeheuer sind, und erklären sie – welch eine Überraschung! – für geistesgestört. Das macht sie uns begreiflich. Wir brauchen in ihnen nicht mehr normale Menschen zu sehen. Die Kategorie ›böse‹ ist auf sie nicht anwendbar. Und alle sind zufrieden. Möchten Sie seine Mutter kennenlernen, Mr. Dalgliesh?«
»Das ist sinnlos. Er ist nicht unser Mann. Ich hab auch nicht angenommen, daß er’s ist.«
»Sie sollten mal seine Mutter sehen! Ein liederliches Weibsstück ist das. Und wissen Sie, wie sie heißt? Lillian. Das L bedeutet Lillian. Man muß sich mal vorstellen, was alles dahintersteckt. Sie hat ihn zu dem gemacht, was er wurde. Aber wir können doch nicht alle Menschen überprüfen und dann entscheiden, wer alles Kinder haben darf, wer geeignet ist, sie großzuziehen. Als er zur Welt kam, muß sie doch etwas für ihn empfunden, Hoffnungen in ihn gesetzt haben. Sie konnte doch nicht wissen, was sie da zur Welt gebracht hat. Sie hatten nie ein Kind, Mr. Dalgliesh, nicht?«
»Ich hatte einen Sohn. Aber nicht lange.«
Rikkards drückte die Tür sachte mit dem Fuß ins Schloß und wandte den Blick ab. »Das habe ich ganz vergessen«, sagte er. »Tut mir leid. Eine dumme Frage in dieser Situation.«
Jemand kam mit forschen Schritten die Treppe herauf und bog in den Korridor ein. »Das wird der Pathologe sein«, meinte Dalgliesh.
Rikkards erwiderte nichts darauf. Er ging zu der Kommode hinüber und schob mit dem Zeigefinger die Haarbüschel auf der blankpolierten Holzpalette hin und her.
»Die von Hilary Roberts sind bestimmt nicht darunter«, sagte er. »Die Spurensicherung wird das noch genau überprüfen. Aber sie sind gewiß nicht darunter. Ich muß jetzt nach einem ganz anders gearteten Mörder suchen. Und den werde ich auch aufspüren, Mr. Dalgliesh.«
24
Eine Dreiviertelstunde später war Rikkards wieder am Schauplatz des Verbrechens. Er schien das Stadium bewußter Erschöpfung überschritten zu haben und agierte in einer anderen Raum-Zeit-Dimension. Sein Verstand funktionierte mit geradezu unnatürlicher Klarheit, sein Körper indes kam ihm schwerelos vor, ebenso unwirklich wie der bizarre Tatort, an dem er sich bewegte, mit den Leuten redete, seine Anweisungen gab. Das fahle Mondlicht verblaßte gegenüber den gleißenden Scheinwerfern, die die Bäume, die Männer und deren Geräte beleuchteten und ihnen klar abgesetzte Konturen verliehen. Man hörte Männerstimmen, das Knirschen von Schritten auf dem Kies, das Flattern der Zeltleinwand in der aufkommenden Brise, das stetige Rauschen und Glucksen der Wellen.
Dr. Anthony Maitland-Brown war von Easthaven mit seinem Mercedes hierhergefahren und als erster angekommen. Er trug Handschuhe und seinen Arztkittel und kniete gerade neben der Leiche, als Rikkards eintraf. Der Polizeibeamte war so klug, sich nicht einzumischen. Dr. Maitland-Brown mochte Beobachter nicht, wenn er am Tatort eine vorläufige Untersuchung vornahm, und reagierte zumeist mit einem unwirschen: »Müssen denn all die Leute hier herumstehen?«, sollte sich ihm jemand auf mehr als drei Schritt nähern, als wären der Polizeiphotograph, die Untersuchungsbeamten oder der Gerichtsbiologe lediglich Neugierige auf der Jagd nach Schnappschüssen. Er war ein gepflegter, ungemein gutaussehender, hochgewachsener Mann, dem man in seiner Jugend, so ging das Gerücht, geschmeichelt hatte, er würde dem Schauspieler Leslie Howard ähnlich sehen. Seitdem hatte er sich eifrig bemüht, diesem Vergleich gerecht zu werden. Er hatte eine harmonisch verlaufene Scheidung hinter sich, war vermögend – seine Mutter hatte ihm ein beträchtliches Privateinkommen hinterlassen – und konnte folglich bedenkenlos seinen beiden Passionen – eleganter Kleidung und der Oper – frönen. In seiner Freizeit besuchte er in Begleitung junger, ausgesprochen hübscher Schauspielerinnen Covent Garden oder Glyndebourne; offenbar waren seine Auserwählten bereit, drei Stunden Langeweile in Kauf zu nehmen, nur um des Prestiges seiner Gesellschaft
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