Vorsatz und Begierde
Personalbüro, in dem die Akten der Angestellten aufbewahrt wurden. Sämtliche Personalunterlagen waren, wie er wußte, im Computer abgespeichert worden, die Originalakten jedoch existierten immer noch und wurden von Mrs. Simpson bewacht, als handele es sich um eine Sammlung heikler und gefährlicher Informationen. Mrs. Simpson näherte sich dem Ende ihres Arbeitslebens und war mit den Computerunterlagen überhaupt nicht zurechtgekommen. Für sie existierte nur eine einzige Realität: das, was schwarz auf weiß zwischen den Aktendeckeln einer offiziellen Kartei untergebracht war. Shirley Coles, ihre Bürogehilfin, war eine neu eingestellte, hübsche Achtzehnjährige aus dem Dorf. Sie war eindringlich auf die Autorität des Direktors und der Abteilungsleiter hingewiesen worden, hatte sich aber noch nicht jenes subtilere Gesetz angeeignet, das jede Betriebsorganisation bestimmt und die Angestellten in zwei Gruppen unterteilt: diejenigen, deren Wünsche ohne Rücksicht auf den Dienstgrad ernst zu nehmen sind, und jene, die man ungestraft ignorieren darf. Sie war ein zuvorkommendes Mädchen, sehr diensteifrig und dankbar für jede Freundlichkeit.
»Ich bin fast sicher, daß sie Anfang kommenden Monats Geburtstag hat«, erklärte Jonathan. »Die Personalakten sind vertraulich, das ist mir klar, aber es geht ja nur um ihr Geburtsdatum. Wenn Sie doch bitte nur kurz mal nachsehen und mir das Datum sagen könnten.«
Er merkte, daß er unbeholfen und nervös wirkte, aber das konnte ihm hier nur helfen, denn sie wußte, was es hieß, sich unbeholfen und nervös zu fühlen. »Nur das Geburtsdatum«, ergänzte er. »Ehrlich. Und ich werde niemandem sagen, woher ich’s weiß. Sie hat’s mir gesagt, aber ich hab’s vergessen.« »Ich darf nicht, Mr. Reeves.«
»Das ist mir klar, aber ich wüßte nicht, wie ich es sonst rausfinden soll. Sie wohnt nicht zu Hause, deswegen kann ich auch ihre Mutter nicht fragen. Es wäre mir wirklich unangenehm, wenn sie annehmen müßte, ich hätte ihren Geburtstag vergessen.«
»Könnten Sie nicht noch mal wiederkommen, wenn Mrs. Simpson da ist? Die wird’s Ihnen bestimmt sagen. Ich darf keine Akten öffnen, solange sie weg ist.«
»Ich könnte sie zwar bitten, aber das möchte ich lieber nicht tun. Sie wissen doch, wie sie immer ist. Sie würde mich ganz zweifellos auslachen. Wegen Caroline. Aber Sie, dachte ich, würden Verständnis für mich haben. Wo ist Mrs. Simpson?«
»Macht Kaffeepause. Sie nimmt sich immer zwanzig Minuten. Aber Sie sollten sich lieber an die Tür stellen und mir Bescheid geben, wenn jemand kommt.«
Statt dessen bezog er neben dem Aktenschrank Posten und sah zu, wie sie zum Tresorschrank mit dem Kombinationsschloß ging und die Wählscheibe drehte. »Darf die Polizei Einblick in die Personalakten nehmen, wenn sie das wollen?«
»Aber nein, Mr. Reeves, das wäre nicht zulässig. Die sieht niemand außer Dr. Mair und Mrs. Simpson. Weil sie streng vertraulich sind. Miss Robarts’ Akte hat die Polizei allerdings gesehen. Dr. Mair hat sie gleich Montag morgen verlangt, noch ehe die Polizei herkam. Er hat sie sofort telephonisch angefordert, als er in seinem Büro eintraf. Mrs. Simpson hat sie ihm persönlich gebracht. Aber das ist was anderes. Hilary Robarts ist tot. Und wenn man tot ist, gibt es nichts Vertrauliches mehr.«
»Nein«, stimmte er ihr zu, »wenn man tot ist, gibt es nichts Vertrauliches mehr.« Und plötzlich sah er sich in jenem kleinen Mietshaus in Ramford, wie er der Mutter half, Großvaters Sachen auszuräumen, nachdem er einen Herzanfall erlitten hatte; er erinnerte sich an die schmutzigen Kleidungsstücke, den Geruch, den Speiseschrank mit dem Vorrat von gebackenen Bohnen, von denen sich der Großvater hauptsächlich ernährte, die nicht abgedeckten Schüsseln voll ausgetrockneter, verschimmelter Speisereste, die unanständigen Zeitschriften, die Jonathan unten in einer Schublade gefunden und die ihm die Mutter mit hochrotem Kopf aus der Hand gerissen hatte. O nein, wenn man erst tot war, gab es nichts Vertrauliches mehr.
Mit dem Rücken zu ihm sagte Shirley Coles: »Ist das nicht schrecklich, das mit dem Mord? Irgendwie kann man sich das gar nicht vorstellen. Nicht von einem Menschen, den man persönlich kannte. Für uns in der Personalabteilung bedeutet das eine Menge Mehrarbeit. Die Polizei hat eine Liste sämtlicher Angestellten mit ihren Adressen verlangt. Und jeder hat ein Formular gekriegt, auf dem gefragt wird, wo er am
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