Vorsatz und Begierde
bewegte sich im Schlaf und gluckste ein paarmal leise.
»Wenn du in Cromer nirgendwo unterkommen kannst«, hatte er nach einer Weile gesagt, »könntest du doch vorläufig zu mir in den Wohnwagen ziehen. Ich meine, ich habe noch einen zweiten Schlafraum«, fügte er hastig hinzu. »Er ist zwar winzig, hat nur Platz für ein Feldbett, aber das reicht doch. Ich weiß, es ist ziemlich einsam hier, aber der Strand ist nah. Und dem Kind wird’s guttun.«
Sie musterte ihn wiederum forschend, und er sah zu seinem Unbehagen in ihren Augen so etwas wie Schläue oder Durchtriebenheit aufblitzen.
»Einverstanden«, erwiderte sie. »Wenn ich nichts anderes auftreibe, bin ich morgen wieder da.«
In der Nacht fand er keinen Schlaf, weil er ihre Rückkehr ersehnte, zugleich aber Angst davor hatte. Am Nachmittag darauf kam sie wirklich – Timmy auf der Hüfte, ihre Besitztümer im Rucksack. Und damit hatte sie vom Wohnwagen und seinem Leben Besitz ergriffen. Er wußte nicht, ob das, was er für sie empfand, nun Liebe war, Zuneigung, Mitleid oder eine Mischung aus all diesen Gefühlen. Er wußte bloß, daß die zweitgrößte Angst in seinem bänglichen, übervorsichtigen Leben die war, sie könnte ihn verlassen.
Seit über zwei Jahren hauste er mittlerweile in dem Wohnwagen, abgesichert durch ein Forschungsstipendium seiner im Norden des Landes gelegenen Universität; er sollte die Auswirkungen der industriellen Revolution auf die ländlichen Betriebe in East Anglia erforschen. Obwohl seine Dissertation fast abgeschlossen war, hatte er im vergangenen halben Jahr kaum noch weitergearbeitet, sondern sich leidenschaftlich für den Kampf gegen die Kernenergie engagiert. Von dem Wohnwagen aus, der so nahe am Meer stand, konnte er – Symbol und Bedrohung zugleich – am Horizont das AKW sehen, das so unerschütterlich wirkte wie Neils Entschluß, dem ein Ende zu bereiten. Vom Wohnwagen aus leitete er die PANUP, eine kleine Gruppierung von Atomkraftgegnern, deren Gründer und Vorsitzender er zugleich war. Daß er den Wohnwagen benützen durfte, hatte er einem glücklichen Umstand zu verdanken. Der Besitzer von Cliff Cottage war ein Kanadier, der, auf der Suche nach seinen heimatlichen Wurzeln, einer nostalgischen Regung gefolgt war und das Anwesen als Feriendomizil erstanden hatte. Doch fünfzig Jahre zuvor hatte sich in Cliff Cottage ein Mord ereignet. Es war ein ganz gewöhnlicher Totschlag gewesen: Ein entnervter Mann hatte seine Frau, die ihm das Leben zur Hölle machte, mit dem Beil erschlagen. Auch wenn der Vorfall weder interessant noch mysteriös gewesen war, so war doch reichlich Blut geflossen. Nach dem Kauf des Hauses hörte die Frau des Kanadiers nun grausige Schauermärchen – alle Wände seien mit Gehirnmasse und Blut bespritzt –, worauf sie erklärte, dort wolle sie weder im Sommer noch zu einer anderen Jahreszeit leben. Die Abgeschiedenheit des Hauses, das, was zuvor seinen Reiz ausgemacht hatte, erregte nun Grauen und Entsetzen. Zudem lehnte die zuständige Baubehörde die allzu ehrgeizigen Umbaupläne des Besitzers ab. Von dem Cottage und den damit verbundenen Widrigkeiten abgeschreckt, vernagelte der Kanadier daraufhin die Fenster mit Brettern und kehrte nach Toronto zurück. Irgendwann wollte er wiederkommen, wenn er sich klargeworden war, was er mit seiner mißratenen Erwerbung anfangen könnte. Der vorherige Besitzer hatte einen geräumigen, aber altmodischen Wohnwagen hinter dem Haus abgestellt. Diesen überließ nun der Kanadier Neil für zwei Pfund die Woche, ohne lange zu feilschen, da er auf diese Weise jemand hatte, der sich um das Anwesen kümmerte. Und vom Wohnwagen aus, seinem Heim und Büro, führte Neil jetzt seine Kampagne. Er wollte nicht an den Zeitpunkt denken – nur noch sechs Monate waren es bis dahin –, wenn sein Stipendium auslief und er sich um eine feste Anstellung bemühen mußte. Ihm war nur klar, daß er hier auf der Landzunge auszuharren hatte, den monströsen Betonklotz in Sichtweite, der seine Phantasie ebenso beherrschte wie den Ausblick.
Zu der Unsicherheit über seinen künftigen Lebensunterhalt war inzwischen eine weitere, noch erschreckendere Bedrohung gekommen. Vor etwa fünf Monaten hatte er anläßlich eines Tages der offenen Tür das AKW besucht. Hilary Robarts hatte einen kurzen Einführungsvortrag gehalten; Neil bezweifelte fast alle ihre Angaben, und was als eine PR- wirksame Informationsveranstaltung gedacht gewesen war, steigerte sich zu einer öffentlichen
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