Vorsatz und Begierde
war mehr darauf bedacht, jegliche Kritik abzublocken, als Martin ein ehrendes Andenken zu bewahren. Und der Junge, dem er das Leben rettete, geriet hinterher auf die schiefe Bahn. Ich weiß, es ist töricht, daß mir das noch immer nahegeht.«
»Es ist doch völlig normal, daß du gehofft hast, dein Mann habe sein Leben zumindest nicht für einen Tunichtgut riskiert. Vielleicht rüttelt das den Jungen auf. Man lebt nicht leicht, wenn man weiß, daß jemand für einen sein Leben geopfert hat.«
»Das habe ich mir auch eingeredet«, sagte Meg. »Eine Zeitlang war ich von dem Jungen geradezu besessen. Ich wartete vor der Schule auf ihn. Manchmal drängte es mich danach, ihn zu streicheln. Es war, als wäre etwas von Martin auf ihn übergegangen. Aber ihm war das alles selbstverständlich nur peinlich. Er wollte mich nicht sehen, wollte nicht mit mir sprechen. Weder er noch seine Eltern. Es war, nebenbei gesagt, kein netter Junge. Ein Rüpel war er und obendrein noch dumm. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Martin ihn mochte. Gesagt hat er’s zumindest nicht. Außerdem war er picklig. Aber dafür konnte er nichts. Ich weiß nicht, warum ich das überhaupt erwähne.«
Warum hatte sie – nach all den Jahren – überhaupt von ihm gesprochen? Mußte sie auch noch ausplaudern, daß sie von ihm geradezu besessen war? Noch nie hatte sie mit jemand darüber geredet.
»Tja, es ist bedauerlich, daß dein Mann ihn nicht ertrinken ließ und sich selbst in Sicherheit brachte. Aber in seiner Aufregung konnte er wohl nicht abwägen, was einer Rettung würdiger ist – die nützlichen Fähigkeiten eines Lehrers oder die Dummheit eines pickligen Jungen.«
»Ihn ertrinken lassen? Mit Bedacht? Aber Alice! Du weißt doch, daß auch du so was nicht tun könntest!«
»Vielleicht nicht. Aber ich bin durchaus fähig, eine aberwitzige Dummheit zu begehen. Wahrscheinlich hätte ich ihn herausgezogen, wenn meine Gefährdung nicht allzu groß gewesen wäre.«
»Selbstverständlich hättest du das! Dieser Instinkt, andere zu retten, zumal ein Kind, steckt nun mal in uns.«
»Dieser Instinkt, den ich sehr sinnvoll finde, treibt uns dazu, uns selbst zu retten. Deswegen bezeichnen wir Menschen, die ihm nicht folgen, auch als Helden und verleihen ihnen Orden. Denn uns ist bewußt, daß sie wider ihre Natur gehandelt haben. Ich kann nicht verstehen, wie du der Welt nur lautere Absichten zuerkennen kannst.«
»Tu ich das? Vielleicht doch. Abgesehen von den zwei Jahren nach Martins Tod habe ich immer angenommen, daß die Welt sich im Grunde von Liebe leiten läßt.«
»Die Welt ist im Grunde grausam. Wir sind Bestien, die einander als Beute ansehen. So handeln alle Lebewesen. Hast du gewußt, daß Wespen ihre Eier in lebende Marienkäfer legen, indem sie deren Chitinpanzer an der schwächsten Stelle durchbohren? Die Larven mästen sich an dem lebenden Marienkäfer, umspinnen seine Beine, bis sie dann der leergefressenen Hülle entschlüpfen. Wer sich das ausgedacht hat, muß doch einen absonderlichen Sinn für Humor haben, meinst du nicht auch? Komm mir jetzt nur nicht mit Zitaten von Tennyson!«
»Vielleicht spürt der Marienkäfer nichts davon?«
»Ein tröstlicher Gedanke, aber wetten würde ich nicht darauf. Du mußt eine glückliche Kindheit gehabt haben.«
»O ja! Das stimmt. Meine Kindheit war glücklich. Ich hätte zwar gern Geschwister gehabt, aber ich kann mich nicht entsinnen, daß ich mich einsam fühlte. Wir hatten nie viel Geld, doch an Liebe hat es mir nicht gemangelt.«
»Liebe! Ist sie denn so wichtig? Du als Lehrerin solltest es wissen. Ist sie so wichtig?«
»Sie ist lebenswichtig. Wenn sie einem Kind in den ersten zehn Lebensjahren zuteil wird, ist alles andere nebensächlich. Wenn nicht, läßt sich das durch nichts ausgleichen.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Mein Vater erlitt einen tödlichen Unfall, als ich fünfzehn war«, sagte dann Alice.
»Wie schrecklich! Wie ist es dazu gekommen? Warst du dabei? Hast du es mitansehen müssen?«
»Er hat sich mit einer Hippe die Beinschlagader aufgerissen. Er ist verblutet. Nein, wir haben’s nicht mitansehen müssen. Als wir ihn fanden, war es zu spät.«
»Armer Alex! Er ist ja jünger als du. Es muß furchtbar für euch beide gewesen sein.«
»Es hat unser beider Leben zweifellos beeinflußt, vor allem meins. Aber willst du nicht einen meiner Kekse probieren? Ich habe sie nach einem neuen Rezept gemacht, bin mir aber nicht ganz sicher, ob sie mir auch gelungen
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