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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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sind. Sie sind etwas zu süß. Vielleicht habe ich zuviel Orangeat genommen. Sag es mir frei heraus!«
    Die von den Fliesen aufsteigende Kälte an ihren Beinen holte Meg in die Gegenwart zurück. Zerstreut richtete sie die Henkel der Tassen auf dem Tablett aus. Jetzt wußte sie auch wieder, warum ihr die sommerliche Teestunde in Martyr’s Cottage eingefallen war. Die Kekse, die sie morgen früh auf dem Frühstückstablett servieren wollte, waren nach Alices Rezept gebacken worden. Aber sie würde sie erst morgen aus der Dose nehmen. Jetzt brauchte sie nur noch ihre Wärmflasche zu füllen. Obwohl der Alte Pfarrhof keine Zentralheizung hatte, schaltete sie den zweispiraligen Elektroofen nur selten ein, weil die Copleys die Heizkosten so gering wie möglich halten wollten. Sie drückte die mollig warme Gummiflasche an die Brust, überprüfte noch, ob an der Vorder- und Hintertür die Riegel vorgeschoben waren, und ging dann die kahle Holztreppe zu ihrem Zimmer hoch. Auf dem Treppenabsatz stieß sie auf Mrs. Copley, die mit wehendem Morgenmantel an ihr vorbei ins Badezimmer huschte. Der Alte Pfarrhof hatte zwar eine zweite Toilette, die im Erdgeschoß lag, aber nur ein einziges, obendrein altertümliches Badezimmer, ein Mißstand, der jedesmal verlegene, mit leiser Stimme geäußerte Fragen zur Folge hatte, wenn einer von ihnen den sorgsam ausgetüftelten Plan durch ein unverhofftes Bad durcheinanderbrachte. Meg wartete, bis sie die Schlafzimmertür der Copleys ins Schloß fallen hörte, und suchte dann erst das Bad auf.
    Eine Viertelstunde später lag sie im Bett. Obwohl sie müde war, konnte sie nicht einschlafen. Ihr Gehirn war noch hellwach, während sich der Körper hin und her wälzte, um endlich eine schlaffördernde Stellung zu finden. Da der Alte Pfarrhof weit genug entfernt lag, war das Getöse der Wellen nicht zu vernehmen. Nur der Salzgeruch des Meeres und ein dumpfes Rauschen drangen bis hierher. Im Sommer erfüllte die Luft ein rhythmisches Glucksen, das sich in stürmischen Nächten oder bei Springflut zu einem bedrohlichen Tosen steigern konnte. Da Meg immer bei geöffnetem Fenster schlief, lullte sie das ferne Rauschen meistens rasch ein. Aber heute wirkte es nicht. Auf dem Nachttisch lag Anthony Trollopes Roman The Small House at Allington, ein Buch, das sie liebte. Doch heute wollte sie sich nicht in die friedliche, trauliche Welt von Barsetshire versetzen lassen, auf Mrs. Dales Rasen eine Partie Krocket spielen, an der Tafel des Gutsherrn schmausen. Die Erinnerung an den vergangenen Abend wirkte allzusehr in ihr nach, war allzu aufregend, zu frisch, als daß sie sich durch Schlaf verdrängen ließ. Sie öffnete die Augen und schaute in die Dunkelheit, in der ihr häufig bevor sie endlich einschlummerte, all die vertrauten, aber nun anklagenden Kindergesichter erschienen, braune, schwarze, weiße, die sich über sie beugten und fragten, warum sie ihre Schüler im Stich gelassen hätte. Sie hätten sie geliebt und gemeint, daß auch sie an ihnen hänge. Sie war jedesmal erleichtert, wenn die sanften, wehklagenden Schemen endlich verblaßten. In den letzten Monaten waren sie ihr nur noch selten erschienen. Manchmal stellte sich auch eine quälendere Erinnerung ein. Die Schulleiterin hatte sie, die doch seit zwanzig Jahren Kinder aller Rassen unterrichtete, zu einem antirassistischen Lehrgang beordern wollen. Daraufhin war es zu einem Vorfall gekommen, den sie monatelang aus ihrem Gedächtnis zu tilgen versuchte; es war bei der letzten Besprechung im Lehrerzimmer gewesen. Immer noch sah sie den Kreis unversöhnlicher Gesichter vor sich, braune, schwarze, weiße, all die anklagenden Augen, hörte die bohrenden Fragen. Als sie dem psychischen Druck nicht länger hatte standhalten können, war sie vor lauter Hilflosigkeit in Tränen ausgebrochen. Ein Nervenzusammenbruch – ein Ausdruck, mit dem man vieles vertuschen konnte – wäre nicht demütigender gewesen.
    Doch heute quälten sie nicht diese beschämenden Erinnerungen, sondern noch beunruhigendere Bilder. Sie sah wieder die mädchenhafte Gestalt vor der Abteimauer, die wie ein Phantom davonhuschte und mit dem dunklen Strand verschmolz. Dann war sie wieder auf der Dinnerparty und erblickte über den Tisch hinweg im Kerzenlicht Hilary Robarts’ dunkle, mißgünstige Augen, die starr auf Alex Mair gerichtet waren, sie erspähte Miles Lessinghams breitflächiges Gesicht, das vom flackernden Kaminfeuer erhellt wurde, sah, wie seine langfingrigen

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