Vorsatz und Begierde
darf ich mir einreden, daß eine Lüge die Wahrheit ist«, schärfte er sich ein. »Ich kann Lügen verbreiten, wenn es zweckdienlich ist, aber das muß mir auch bewußt sein. Mich selbst darf ich nicht anlügen. Ich darf Tatsachen nicht verfälschen. Ich muß sie hinnehmen, mich ihnen stellen. Nur so kann ich lernen, wie man mit ihnen umgeht. Ich kann nach Gründen für mein Handeln suchen und sie sodann als Rechtfertigungen ansehen. Was Vater Alice angetan hat! Wie er Mutter quälte! Wie ich ihn gehaßt habe! Ich kann versuchen, seinen Tod vor mir zu rechtfertigen. Aber ich hab’s nun mal getan, und er ist so und nicht anders ums Leben gekommen.«
Sobald er sich das klargemacht hatte, fand er seinen Seelenfrieden wieder. Und nach ein paar Jahren gelangte er zu der Ansicht, daß Schuldgefühle eine Schwäche seien, daß er überhaupt nicht leiden mußte, wenn er es nicht wollte. Danach kam die Phase, da er sogar stolz auf seine Tat war, auf seinen Mut, seine Kühnheit, seine Umsicht, mit der er sie durchgeführt hatte. Aber auch das war gefährlich. Schließlich dachte er etliche Jahre lang kaum noch an seinen Vater. Seine Mutter und Alice redeten von ihm nur in der Gesellschaft von Bekannten, wenn diese verlegen ihr Beileid ausdrückten und man sich dem nicht entziehen konnte, im Familienkreis dagegen wurde er nur noch ein einziges Mal erwähnt.
Ein Jahr nach seinem Tod heiratete ihre Mutter Edmund Morgan, einen verwitweten Organisten mit einschläfernder Wesensart. Sie zog mit ihm nach Bognor Regis, wo sie – mit der ausbezahlten Lebensversicherung des Vaters – einen geräumigen Bungalow mit Seeblick bezogen und in einer hingebungsvollen Harmonie, die ihre wohlgeordnete, beschauliche Welt widerspiegelte, vor sich hin lebten. Ihre Mutter bezeichnete ihren zweiten Mann stets als Mr. Morgan. »Wenn ich mit dir nie über deinen Vater spreche, Alex«, sagte sie einmal, »dann heißt das nicht, daß ich ihn vergessen habe. Aber Mr. Morgan könnte daran Anstoß nehmen.« Dieser Satz prägte sich Alex und Alice ein. Mr. Morgans Beruf und sein Instrument boten reichlich Anlaß zu kindischen Witzeleien, die sich steigerten, als er und ihre Mutter in den Flitterwochen weilten. »Ich hoffe, daß Mr. Morgan sämtliche Register zieht!« spöttelten sie. Oder: »Meinst du, daß Mr. Morgan auch mal eine Variante einfällt? Denn leicht hat’s der arme Mr. Morgan nicht. Hoffentlich geht ihm nicht die Puste aus!« Sie waren stille, verschlossene Kinder. Aber über solche Albernheiten konnten sie schallend lachen. Die Spötteleien über Mr. Morgan und seine Orgel dämpften den Schrecken der Vergangenheit.
Als Alex etwa achtzehn war, begann ihn ein anderer Gedanke zu beschäftigen. »Ich hab’s gar nicht für Alice getan«, sagte er sich. »Ich hab’s meinetwegen getan.« Merkwürdig war nur, daß es vier Jahre gedauert hatte, bis er auf diese Tatsache stieß. Aber war das nun die Realität? War das die Wahrheit, oder war es nur ein Gedankenspiel, dem er sich in gewissen Stimmungen hingab?
Als er über die Landzunge hinweg nach Osten blickte, wo sich die Morgendämmerung mit einem zarten Goldschimmer ankündigte, sagte er laut: »Ich habe Vaters Tod absichtlich herbeigeführt. Das ist eine Tatsache. Alles übrige ist nur sinnlose Spekulation.« In einem Roman, dachte er weiter, hätten die gemeinsamen Erinnerungen uns quälen müssen, müßten wir jetzt argwöhnische, von Schuldgefühlen geplagte Menschen sein, die sich nicht trennen mochten und ein klägliches Leben miteinander führten. Statt dessen hatte es seit dem Tod ihres Vaters zwischen ihm und seiner Schwester nur Freundlichkeit, Zuneigung und Wohlwollen gegeben.
Und jetzt, fast dreißig Jahre danach, wo man hätte annehmen können, er hätte die Tat und seine Reaktionen darauf längst bewältigt, begann sich die Erinnerung abermals zu regen. Nach dem ersten Mord des Whistlers hatte das angefangen. Der Ausdruck »Mord«, der jedermann von den Lippen ging wie ein widerhallender Fluch, schien die Macht zu haben, das Gesicht seines Vaters heraufzubeschwören, das er geglaubt hatte, verdrängt zu haben, das längst unscharf, leblos wie auf einer vergilbten Photographie geworden war. Seit einem halben Jahr erschien ihm das Gesicht zu allen möglichen, stets ungelegenen Zeiten. Eine Konferenz etwa konnte dies auslösen, die Bewegung einer Hand, das Zittern eines Augenlids, der Tonfall einer Stimme, ein zuckender Mund, gespreizte Finger vor dem Kaminfeuer. Der
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