Vorsatz und Begierde
Hände nach der Rotsponflasche griffen, hörte wieder, wie er mit näselnder Stimme von dem grausigen Vorfall berichtete. Und dann mußte sie sich noch mit Lessingham durch das Gebüsch in dem grauenhaften Wald winden. Sie spürte, wie das dürre Heidekraut ihre Beine zerkratzte, wie die niedrigen Zweige gegen ihre Wange schnellten, erblickte zusammen mit ihm im Lichtschein seiner Stablampe das grotesk entstellte Gesicht. Und in dem Dämmerzustand zwischen Dösen und Schlafen wurde ihr jäh klar, daß sie das Gesicht kannte. Es war ihr Gesicht. Sie schrie entsetzt auf, wurde schlagartig hellwach, machte die Nachttischlampe an, griff entschlossen nach dem Buch und begann zu lesen. Eine halbe Stunde später entglitt das Buch ihrer Hand, und sie fiel in einen unruhigen Schlaf.
16
Sosehr er sich auch bemühte, der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Wach im Bett zu liegen hatte Alex Mair schon immer unzumutbar gefunden. Er konnte mit wenig Schlaf auskommen, sofern dieser wenigstens tief gewesen war. Er schwang die Beine über die Bettkante, zog den Morgenmantel an und trat ans Fenster. So konnte er sich zumindest den Sonnenaufgang über dem Meer ansehen. Die zurückliegenden Stunden fielen ihm ein; wie gut es ihm doch getan hatte, mal wieder mit Alice reden zu können, wie beruhigend die Erkenntnis war, daß nichts sie aus der Fassung bringen konnte, daß nichts sie überraschte, daß seine Handlungen, selbst wenn Alice sie nicht guthieß, nicht nach dem unerbittlichen Maßstab beurteilt wurden, den seine Schwester sich in ihrem eigenen Leben gesetzt hatte.
Ihr gemeinsames Geheimnis, die wenigen Minuten, als er ihren zitternden Körper gegen den Baumstamm drückte und ihr mit einem festen Blick in die Augen Gehorsam abverlangte, hatte ein so starkes Band zwischen ihnen geknüpft, daß nichts es zerfasern konnte, weder die Ungeheuerlichkeit ihrer Schuld noch die kleinen Reibereien des Alltags. Trotzdem hatten sie über den Tod ihres Vaters nie geredet. Er wußte nicht, ob Alice jemals daran dachte, ob sich das Trauma mittlerweile verflüchtigt, ob sie ihrem Unterbewußtsein seine Version des Hergangs eingeprägt, sie zur Wahrheit erhoben hatte. Als er einige Zeit nach dem Begräbnis bemerkt hatte, wie gefaßt sie war, als ihm diese Möglichkeit überhaupt in den Sinn kam, war er so verdutzt, daß er das anfänglich nicht glauben mochte. Er wollte ihre Dankbarkeit nicht. Schon der Gedanke, sie könnte sich ihm verpflichtet fühlen, war ihm peinlich. Verpflichtungen, Dankbarkeit – das waren Worte, die sie in ihrer Beziehung nicht gebrauchten. Dennoch wollte er nicht, daß sie alles aus ihrem Gedächtnis tilgte. Die Tat erschien ihm so monströs, so abwegig, daß es unerträglich gewesen wäre, wenn er sie nicht mit jemand hätte teilen können. In den ersten Wochen hatte er ihr die Größe dessen, was er getan hatte, klarmachen wollen. Er wollte sie wissen lassen, daß er es ihretwegen vollbracht hatte.
Doch sechs Wochen nach dem Begräbnis gelang es ihm plötzlich, sich vorzugaukeln, daß das alles nicht geschehen war, nicht auf diese Weise, daß das erschreckende Ereignis nur seiner kindlichen Phantasie entsprungen sei. Wenn er nachts wach dalag, sah er, wie sein Vater zu Boden stürzte, wie das Blut, einer Fontäne gleich, emporschoß, hörte er die gestammelten Worte. In dieser geänderten, tröstlicheren Fassung hatte er nur eine Sekunde, gewiß nicht länger, gezögert. Dann war er zum Haus gelaufen, um Hilfe zu holen. Zuweilen stellte sich noch eine weitere, erfreulichere Vorstellung ein: Er kniete neben seinem Vater, preßte die Faust gegen die Wunde, stillte das hervorquellende Blut, flüsterte dem Sterbenden beschwichtigende Worte zu. Es war selbstverständlich zu spät. Aber er hatte sich immerhin bemüht. Er hatte sein Bestes getan. Der Amtsarzt, jenes pedantische Männlein mit der Halbbrille und dem vergrämten Gesicht, hatte ihn gelobt: »Ich spreche dem Sohn des Verstorbenen meine Anerkennung aus. Er hat mutig, mit lobenswerter Schnelligkeit gehandelt und sein Möglichstes getan, um das Leben seines Vaters zu retten.«
Anfangs überwältigte ihn die Erleichterung darüber, daß er sich einreden konnte, er sei unschuldig. Nacht um Nacht schlief er mit einem Hochgefühl ein. Aber auch damals war ihm bewußt, daß die selbsterteilte Absolution nur eine Droge war. Dieser beruhigende Behelf war nichts für ihn. Denn darin lag eine Gefahr, die zerstörerischer war als sämtliche Schuldgefühle: »Niemals
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