Vorsatz und Begierde
wie ein fragiles, aus Licht gewobenes Gebilde, das sich, wenn man es berührte, verflüchtigen würde. Manchmal war der Eindruck so stark, daß sie mit der Hand über die Ziegel strich und fast erstaunt war, daß sie sich tatsächlich rauh anfühlten. Sie lehnte das Fahrrad gegen die niedrige Mauer und trat an der Stelle, wo sich ehedem das große Westportal befunden haben mußte, ins Innere der Abtei.
In solchen stillen, mondhellen Nächten war sie hier oft mit ihrer Mutter umhergeschlendert. »Komm, wir reden mit den Mönchen!« hatte ihre Mutter gesagt, und dann waren sie hierhergefahren, durchstreiften wortlos die Ruine, blieben stumm dort stehen, wo sich einst der Altar erhoben haben mußte, und lauschten dem melancholischen Rauschen des Meeres, wie es bestimmt auch die längst toten Mönche getan hatten. Hier hatte ihre Mutter am liebsten gebetet, hier auf diesem steinübersäten, geschichtsträchtigen Areal hatte sie sich geborgener gefühlt als in dem häßlichen roten Ziegelbau am Rand der Ortschaft, wo Pfarrer McKee sonntags die Messe las.
Theresa vermißte Pfarrer McKee, seine Witze, sein Lob, seinen anheimelnden irischen Tonfall. Aber seit dem Tod ihrer Mutter kam er nur noch selten zu ihnen. Und willkommen war er auch nicht mehr.
Sie entsann sich seines letzten kurzen Besuchs. Ihr Vater hatte ihn zur Tür begleitet. »Ihre Frau – Gott sei ihrer Seele gnädig! – hätte es gern gesehen, wenn Theresa regelmäßig zur Kirche und zur Beichte ginge«, sagte Pfarrer McKee beim Abschied. »Mrs. Stoddard-Clark könnte sie am nächsten Sonntag mit dem Wagen abholen. Danach würde sie in der Grange einen Lunch bekommen. Meinen Sie nicht, daß das dem Kind guttun würde?«
»Ihre Mutter gibt es nicht mehr«, hatte ihr Vater entgegnet.
»Ihr Gott hat es so gefügt, daß sie jetzt ohne Mutter ist. Theresa ist nun auf sich selbst angewiesen. Wenn sie zur Kirche gehen möchte, dann soll sie’s tun. Sie kann auch zur Beichte gehen, wenn sie was zu beichten hat.«
Das Gras war hoch hier. Dazwischen wucherte Unkraut, Wildblumen mit dürren Samenkapseln ragten empor. Der Boden war so uneben, daß Theresa vorsichtig auftreten mußte. Sie ging zu dem höchsten Bogen, wo sich einst das Ostfenster mit seinen Buntglasornamenten befunden haben mußte. Jetzt klaffte da ein großes Loch, durch das sie die matt schimmernde See und den Mond sehen konnte. Beim Licht der Taschenlampe machte sie sich an die Arbeit. Zunächst suchte sie nach einem großen, flachen Stein, der das Fundament ihres Altars bilden sollte; als sie nach einigen Minuten einen geeigneten Quader gefunden hatte, wuchtete sie ihn mit dem Taschenmesser heraus. In dem Spalt, der sich dahinter auftat, steckte etwas. Es mußte eine Postkarte sein, die jemand da verborgen hatte. Sie zog sie heraus und strich sie glatt. Es war die Hälfte einer farbigen Ansichtskarte, die die Westseite von Westminster Abbey zeigte. Auch wenn die rechte Hälfte fehlte, konnte man die berühmten Zwillingstürme gut erkennen. Theresa drehte die Ansichtskarte herum und sah, daß da etwas geschrieben stand, das sie jedoch bei dem schwachen Mondlicht nicht lesen konnte. Auch der Poststempel war nicht zu entziffern, und so ließ sich nicht sagen, wie lange sich die Karte wohl schon in dem Spalt befand. Vielleicht hatte jemand sie da im Verlauf eines Suchspiels im Sommer versteckt, aber das interessierte sie eigentlich gar nicht. Solche Geheimbotschaften waren unter den Kindern in der Schule gang und gäbe. Man hinterließ sie irgendwo im Fahrradschuppen oder steckte sie unbemerkt einer Mitschülerin in die Blazertasche. Theresa wollte die Karte schon zerreißen, zögerte aber dann einen Augenblick und schob sie wieder in den Spalt.
Sie tastete die Mauer weiter ab und fand abermals einen geeigneten Stein und ein paar kleinere, die sie als Halterung für die Kerze brauchte. Bald war der Altar errichtet. Sie zündete die Kerze an. Das Kratzen des Streichholzes auf der Reibfläche hörte sich unnatürlich laut an, und das jäh aufflammende Licht blendete sie. Sie ließ etwas Wachs auf den Stein tröpfeln, stellte die Kerze darauf und stützte sie mit den kleinen Steinen ab. Dann setzte sie sich, die Beine untergeschlagen, davor und schaute in die ruhig brennende Kerzenflamme. Sie wußte, daß ihre Mutter bald erscheinen würde. Sie würde sie zwar nicht sehen, aber ihre Anwesenheit spüren, mit ihr reden können. Sie brauchte nur geduldig zu warten und in die stetig brennende
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