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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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kann man doch nicht mit dem AKW vergleichen«, entgegnete Alice. »Die friedliche Nutzung der Atomkraft ist etwas, das sich begreifen, kontrollieren läßt. Dieser neue Mord hingegen hat Alex in eine unangenehme Lage gebracht. Einige Sekretärinnen wohnen hier in der Umgebung und sind bisher mit dem Bus oder dem Rad nach Hause gefahren. Jetzt läßt Alex sie von Mitarbeitern mit dem Wagen abholen und heimbringen. Das wiederum erfordert jedoch bei der Schichtarbeit eine ausgeklügeltere Organisation, als du dir vielleicht vorstellen kannst. Es gibt Mitarbeiterinnen, die sich dermaßen ängstigen, daß sie sich nur von einer Frau fahren lassen.«
    »Sie können doch nicht im Ernst annehmen, der Whistler sei einer ihrer Kollegen, jemand vom AKW?«
    »Sie denken eben nicht richtig nach. Das ist ja das Problem. Sie lassen sich von irrationalen Gefühlen leiten und mißtrauen jedem Mann, vor allem wenn er für die Zeit der letzten zwei Morde kein Alibi hat. Und dann ist da noch Hilary Robarts. Bis Ende Oktober geht sie beinahe jeden Abend im Meer schwimmen, manchmal auch im Winter. Und davon läßt sie sich nicht abbringen. Die Chance, daß sie das nächste Opfer sein könnte, ist zwar gering, aber mit ihrem Leichtsinn untergräbt sie doch alle Vorsichtsmaßnahmen. Übrigens tut es mir wegen der unliebsamen Szene gestern abend leid. Es war keine gelungene Dinnerparty. Zwar schuldete ich Miles und Hilary ein Essen, aber ich habe nicht bedacht, daß die beiden einander nicht mögen. Warum, weiß ich nicht. Alex weiß es vermutlich, aber ich bin nicht so neugierig, daß ich fragen würde. Wie gefällt dir übrigens unser angereister Dichter?«
    »Ich finde ihn sympathisch«, antwortete Meg. »Anfangs dachte ich, daß er mich einschüchtern würde. Aber das traf nicht ein. Wir sind hinterher noch zur Klosterruine geschlendert. Im Mondlicht wirkt sie besonders schön.«
    »Und so romantisch, wie es sich ein Dichter nur wünschen kann«, meinte Alice. »Ich bin froh, daß du dich in seiner Gesellschaft wohl gefühlt hast. Wenn ich die Ruine im Mondlicht sehe, fällt mir nur all das Gerümpel ein, das da herumliegt. Wir Menschen hinterlassen überall Abfall. Aber weißt du, was? Am kommenden Sonntag haben wir Vollmond – willst du da nicht nach deiner Rückkehr vom Bahnhof auf ein gemütliches Abendessen zu mir kommen? Danach könnten wir zur Abtei gehen. Ich erwarte dich gegen halb 10. Wir werden nur zu zweit sein. Nach einem Wochenende in der Stadt fährt Alex meistens noch zum AKW hinüber.«
    »Ich würde gern kommen, aber das schaffe ich nicht«, lehnte Meg bedauernd ab. »Erst muß ich den Copleys ihre Sachen packen und sie in den Zug setzen, und wenn ich aus Norwich zurückkehre, bin ich reif fürs Bett. Hunger habe ich dann gewiß nicht mehr. Vor der Abfahrt mache ich ihnen noch einen Imbiß. Ich könnte ohnehin bloß eine Stunde bleiben. Mrs. Duncan-Smith wird vom Bahnhof Liverpool Street anrufen, wenn die beiden angekommen sind.«
    Alice wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und begleitete Meg, was sonst nicht ihre Art war, zur Tür. Meg fiel ein, daß sie zwar den Spaziergang mit Adam Dalgliesh erwähnt hatte, nicht aber die Frauengestalt, die schemenhaft in der Ruine aufgetaucht war. Sie hatte es nicht etwa verschwiegen, weil sie sich nicht wichtig machen wollte; schließlich konnte sie sich ja auch getäuscht haben, denn Dalgliesh hatte nichts bemerkt. Aber irgend etwas in ihr, das sie sich nicht erklären konnte, sträubte sich dagegen, von ihrer Beobachtung zu erzählen.
    Als sie an der Haustür über die sonnenbeschienene Landzunge hinweg blickte, schien ihr Wahrnehmungsvermögen sich irgendwie zu verändern. Sie hatte das Gefühl, sie befinde sich in einer anderen Zeit, in einer anderen Realität, die aber in die jetzige Wirklichkeit eingebettet war. Die Welt da draußen war dieselbe, und sie nahm jede Einzelheit sogar um so schärfer wahr – die Stäubchen, die im Sonnenlicht über dem Fliesenboden flirrten, die Härte der ausgetretenen Steinplatten unter ihren Füßen, die Nagellöcher im eichenen Türrahmen, die Grashalme in den Horsten am Rand der Heide. Doch die andere Welt bedrängte sie mehr. Da schien keine Sonne; da gab es nur eine alles durchdringende Düsternis mit widerhallendem Pferdegetrappel, mit barschen Männerstimmen, mit einem unverständlichen Gezischel, als würden die Wellen den angeschwemmten Kies ins offene Meer zurücksaugen. Sie hörte das Knistern und Knacken eines

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