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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Dalgliesh keineswegs. Ein gewaltsamer Tod in einer Nacht reichte ihm. Er sehnte sich plötzlich nach der Geruhsamkeit und Abgeschiedenheit seiner Mühle. Doch wie es aussah, würde er erst in den frühen Morgenstunden zum Schlafen kommen. Den Vorschlag konnte er nicht gut ablehnen.
    »Ich könnte Sie mit dem Wagen hinüberfahren und auch wieder heimbringen«, fügte Rikkards hinzu.
    Dalgliesh graute es vor der Vorstellung, mit Rikkards im selben Wagen zu fahren. »Setzen Sie mich bei der Mühle ab«, sagte er. »Ich nehme meinen Wagen. Dann brauche ich in Easthaven nicht so lange zu bleiben, falls Sie warten müssen.«
    Daß Rikkards so bedenkenlos den Tatort verlassen wollte, erstaunte ihn ein wenig. Gewiß, da waren Stuart Oliphant und die anderen Beamten. Wie sie sich bei der Aufklärung eines Mordfalls zu verhalten hatten, wußten sie; es waren erfahrene Leute. Solange der Gerichtsmediziner nicht eingetroffen war, durfte die Lage der Leiche nicht verändert werden. Aber anscheinend kam es Rikkards darauf an, daß sie sich die Leiche des Whistlers zusammen anschauten. Er überlegte, welcher längst vergessene Vorfall in ihrer gemeinsamen Zeit in Rikkards diesen Wunsch ausgelöst haben mochte.

23
    Das Hotel Balmoral war das letzte Haus in einer unansehnlichen, aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Gebäudereihe am weniger schicken Ende der langen Promenade. Die sommerlichen Lichtergirlanden hingen noch zwischen den viktorianischen Laternenpfosten, brannten aber nicht. Sie glichen einer überdimensionalen, billigen Halskette, die bei der ersten stärkeren Windböe reißen und sich in ihre schmuddeligen Bestandteile auflösen würde. Die Sommersaison war offiziell zu Ende. Dalgliesh hielt hinter dem Polizei-Rover auf der linken Seite der Promenade. Zwischen der Fahrbahn und dem im Mondlicht schimmernden Meer lag ein von einem Drahtzaun umgebener Kinderspielplatz. Der Eingang war mit einem Vorhängeschloß gesichert. An den geschlossenen Fensterläden des Kiosks klebten verblichene, eingerissene Plakate, die Sommer-Shows, sonderbar geformte Eiskremsorten und Belustigungen mit Clowns anpriesen. Die Schaukeln waren hochgezurrt. Einer der Metallsitze klapperte in der auffrischenden Brise in seinem Eisenrahmen. Das Hotel hob sich von den düsteren Nachbargebäuden deutlich ab, denn die Fassade war in einem grellen Blau gestrichen, das selbst die trübe Straßenbeleuchtung nicht zu dämpfen vermochte. Das Eingangslicht fiel auf einen angehefteten Papierbogen mit den Worten: »Unter neuer Leitung. Bill und Joy Carter heißen Sie im Hotel Balmoral willkommen.« Auf dem Papierbogen darunter stand nur »Zimmer frei«.
    Sie konnten die Straße nicht überqueren, weil ein paar Autos langsam vorbeifuhren. Die Fahrer spähten nach einem freien Parkplatz.
    »Es ist ihre erste Saison«, berichtete Rikkards. »Trotz des scheußlichen Sommers sind die Carters, wie sie selbst sagen, bisher nicht schlecht gefahren. Aber das wirft sie nun zurück. Bloß das neugierige Pack wird kommen, während andere Leute es sich wohl zweimal überlegen werden, ob sie sich hier mit ihren Kindern für die Ferien einquartieren sollen. Glücklicherweise ist das Haus zur Zeit halb leer. Heute morgen kamen zwei Stornierungen. Nur drei Paare sind noch da. Und die waren gerade nicht zu Hause, als Mr. Carter die Leiche fand. Bislang ist es uns gelungen, sie in ihrer Unwissenheit zu belassen. Sie schlafen jetzt wahrscheinlich. Hoffen wir, daß es so bleibt.«
    Die vorherige Ankunft der Polizei mußte etlichen Einheimischen aufgefallen sein, doch hatten die Beamten in Zivil, die unauffällig auf der Veranda ihren Dienst versahen, die Neugierigen zum Gehen bewogen. Die Straße war leer. Etwa fünfzig Meter entfernt harrte in der Nähe des Strandes noch ein Grüppchen von vier oder fünf Leuten aus. Als Dalgliesh zu ihnen hinüberblickte, liefen sie auseinander, als hätte die Brise sie aufgescheucht.
    »Warum ausgerechnet hier?« fragte er Rikkards.
    »Das haben wir inzwischen erfahren. Wir wissen noch manches nicht, aber das wissen wir wenigstens. Die haben hier einen Barmann, eine Aushilfskraft. Albert Upcraft heißt er, und fünfundsiebzig Jahre ist er alt. Er erinnerte sich. Über das, was gestern hier so alles geschah, würde er nicht soviel sagen können. Aber sein Langzeitgedächtnis ist noch gut. Demnach ist der Whistler schon als Kind hier gewesen. Seine Tante, die Schwester seines Vaters, hat vor zwanzig Jahren den Laden hier geleitet. Wenn das

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