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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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darüber nachgedacht, daß ich meine Tante eigentlich nur wenig kannte, darüber, ob es möglich ist, einen anderen Menschen besser als nur oberflächlich zu kennen, selbst Frauen, die man liebt. Ich habe mich gefragt, ob ich ein besserer Dichter geworden wäre, überhaupt jemand, der Gedichte schreibt, wenn ich nicht zugleich bei der Polizei wäre. Und ich habe darüber nachgedacht, ob mein Leben sich durch die unverdiente Erbschaft von einer dreiviertel Million Pfund zum Besseren oder Schlechteren wandeln wird.«
    Daß er diese Gedanken für sich behalten, nicht einmal von dem kindischen Waten im Meer gesprochen hatte, ließ in ihm ein irrationales Schuldgefühl aufkommen, als würde er absichtlich wichtige Informationen verschweigen. Aber schließlich war es doch nur ein harmloser Zeitvertreib gewesen. Zudem konnte man ihn nicht ernsthaft verdächtigen. Selbst Rikkards hätte diesen Gedanken lächerlich gefunden. Dennoch mußte Dalgliesh einräumen, daß keiner der Menschen, die auf der Landzunge lebten und Hilary Robarts gekannt hatten, von der polizeilichen Untersuchung ausgeschlossen werden durfte, auch nicht, wenn es sich um einen höheren Polizeibeamten handelte. Er war nun mal ein Zeuge. Er konnte sein Wissen für sich behalten oder es preisgeben. Auch wenn anzunehmen war, er würde Informationen nicht für sich behalten, änderte das nichts an der Tatsache, daß die Beziehung der beiden Polizeibeamten zueinander sich geändert hatte. Er war, ob es ihm nun behagte oder nicht, in den Fall verwickelt. Auf diese widrige Realität brauchte ihn Rikkards nicht eigens hinzuweisen. Beruflich gesehen, ging ihn der Mordfall nichts an, wohl aber menschlich.
    Es verblüffte und verstörte ihn auch ein wenig, daß ihn Rikkards’ Fragen, mochten sie noch so vorsichtig formuliert gewesen sein, verdrossen. Jedermann hatte wohl das Recht, nachts am Strand entlang zu schlendern, ohne die Gründe gleich einem Polizeibeamten darlegen zu müssen. Dennoch tat ihm diese Erfahrung gut. Solche Gefühle mußten in jedem Menschen aufsteigen, der, obwohl er sich keiner Schuld bewußt war, einem Polizeiverhör unterzogen wurde. Ihm fiel ein, daß er sich schon als Kind ungern hatte ausfragen lassen: »Was machst du da? Was liest du gerade? Wohin gehst du?« Er war das einzige, ersehnte Kind ältlicher Eltern gewesen, schwer belastet durch ihre geradezu erstickende Fürsorglichkeit und Rechtschaffenheit. Er wuchs in einer kleinen Ortschaft auf, wo nur wenig von dem, was der Sproß des Pastors so trieb, der dörflichen Neugier entging. Als er jetzt in dieser öden, penibel aufgeräumten Küche stand, rief ihm das schmerzhaft den Augenblick in Erinnerung, als man in seinen eifersüchtig gehüteten Zufluchtsort eingedrungen war. Er entsann sich des abgeschiedenen Flecks, verborgen in den Rhododendronbüschen und Holundersträuchern am Rand des Obstgartens, des grünblättrigen Tunnels, der zu seinem feuchterdigen, mit Laubhumus bedeckten Refugium führte, entsann sich des Nachmittags im August, als sich jemand raschelnd durch die Büsche zwängte und dann der feiste Kopf der Köchin zwischen den Blättern auftauchte. »Deine Mutter hat sich schon gedacht, daß du hier steckst, Master Adam«, hatte sie gesagt. »Der Pastor will dich sprechen. Was treibst du überhaupt hier? Warum versteckst du dich in diesem Gebüsch, wo man keine Luft kriegt? Spiel doch in der Sonne!« Seine letzte Zuflucht, von der er angenommen hatte, daß sie niemand kannte, war aufgespürt worden. Und alle hatten von ihr gewußt.
    »O Herr, vor dir bleibt nichts verborgen«, sagte er leise.
    Rikkards schaute ihn fragend an. »Was haben Sie gesagt, Mr. Dalgliesh?«
    »Es war nur ein Zitat, das mir in den Sinn kam.«
    Rikkards erwiderte nichts darauf. Vermutlich dachte er sich, daß man einem Dichter solche Äußerungen nachsehen müßte. Er musterte noch einmal eindringlich die Küche, als könne der forschende Ausdruck seiner Augen dem Tisch und den vier Stühlen, der offenen Weinflasche und den beiden Gläsern ihr Geheimnis entlocken. »Ich werde das Haus verschließen«, sagte er, »und es bis morgen von einem meiner Leute bewachen lassen. Jetzt muß ich hinüber nach Easthaven, wo ich Dr. Maitland-Brown, den Pathologen, treffe. Er schaut sich den Whistler an und kommt dann hierher. Hoffentlich ist inzwischen der Gerichtsmediziner schon angekommen. Sie wollten sich den Whistler doch auch ansehen, Mr. Dalgliesh. Der Zeitpunkt erscheint mir günstig.«
    Das fand

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