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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Geschäft mal ruhiger verlief, spendierte sie ihm ein paar Gratisferientage, um seine Mutter zu entlasten. Vor allem dann, wenn seine Mutter wieder mal einen neuen Galan hatte und der neue Onkel den Jungen nicht duldete. Manchmal war er wochenlang hier. Er bereitete niemand Unannehmlichkeiten. Er bediente die Gäste, bekam Trinkgeld, besuchte sogar die Sonntagsschule.«
    »Der Tag ist nun vergangen«, zitierte Dalgliesh.
    »Na ja, seine Tage auf jeden Fall. Um halb 3 Uhr nachmittags kam er heute an und verlangte allem Anschein nach dasselbe Zimmer. Ein Einzelzimmer auf der Rückseite, das billigste im Haus. Die Carters sollten für diese glückliche Fügung dankbar sein. Er hätte ja auch groß angeben, das beste Doppelzimmer, ein eigenes Bad, Meeresblick und was weiß ich verlangen können.«
    Der Constable an der Tür salutierte. Sie traten von der Lobby in die Hotelhalle, in der es nach Wandfarbe, Möbelpolitur und ganz leicht nach einem Desinfektionsmittel mit Lavendelaroma roch. Die Sauberkeit ringsum war geradezu einschüchternd. Über dem grell gemusterten Teppich lag ein strapazierfähiger Läufer. Die Wände waren neu und unterschiedlich tapeziert. Durch die offene Speisesaaltür sah man für jeweils vier Personen gedeckte Tische mit strahlend weißen Tischdecken und kleinen Vasen mit künstlichen Osterglocken, Narzissen und prallen Rosen. Das Pärchen, das ihnen entgegenkam, war so schmuck wie das Hotel. Bill Carter war klein und adrett gekleidet, die Bügelfalten an seinem weißen Hemd und der Hose messerscharf, die Krawatte untadelig geknotet. Seine Frau trug ein geblümtes Sommerkleid, darüber eine weiße Strickjacke. Sie hatte offensichtlich geweint; ihr rundes, kindliches Gesicht unter dem sorgsam frisierten Blondhaar war verquollen und wies rötliche Flecken auf, als hätte sie jemand geschlagen. Sie war unverkennbar enttäuscht, als sie nur die beiden sah.
    »Ich dachte, Sie seien gekommen, um ihn fortzuschaffen«, sagte sie. »Wann bringen Sie ihn endlich weg?«
    Rikkards stellte Dalgliesh nicht vor. Er sagte beschwichtigend: »Das werden wir, Mrs. Carter, sobald der Pathologe die Leiche untersucht hat. Er muß jeden Augenblick eintreffen. Unterwegs ist er schon.«
    »Der Pathologe? Das ist ein Arzt, nicht? Wozu brauchen Sie denn einen Arzt? Er ist doch tot, oder? Bill hat ihn tot aufgefunden. Seine Kehle ist durchschnitten. Er ist so tot, wie man es nur sein kann.«
    »Die Leiche bleibt nicht mehr lange in Ihrem Haus, Mrs. Carter.«
    »Das Bettuch ist über und über mit Blut befleckt, sagt Bill. Er wollte mich nicht reinlassen. Nicht, daß ich ihn unbedingt sehen möchte. Und der Teppich ist ruiniert. Blutflecken lassen sich nur schwer entfernen, wie jedermann weiß. Wer bezahlt mir das mit dem Teppich und dem Bett? Großer Gott, und ich dachte schon, wir wären aus dem Gröbsten heraus! Warum ist er ausgerechnet zu uns gekommen? Das war nicht nett von ihm. Das war nicht rücksichtsvoll.«
    »Er war kein rücksichtsvoller Mensch, Mrs. Carter.«
    Ihr Mann legte seinen Arm um ihre Schulter und führte sie weg. Gleich darauf kehrte er zurück und sagte: »Das macht der Schock. Sie ist völlig durcheinander. Wer wäre das nicht? Sie kennen den Weg, Mr. Rikkards. Der Polizeibeamte ist oben. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich nicht mit.«
    »Ist schon gut, Mr. Carter, ich kenne den Weg.«
    Carter drehte sich nochmals um und sagte flehentlich: »Schaffen Sie ihn bitte aus dem Haus, Sir!«
    Einen Augenblick lang rechnete Dalgliesh damit, daß auch Mr. Carter gleich in Tränen ausbrechen würde.
    Einen Fahrstuhl gab es nicht. Dalgliesh folgte Rikkards die Treppe hinauf bis zum dritten Absatz. Dann ging es einen schmalen Gang entlang bis zur Rückseite, wo Rikkards rechts einbog. Der junge Constable, der auf einem Stuhl vor der Tür saß, stand auf, öffnete mit der linken Hand die Tür und drückte sich gegen die Wand.
    Im Zimmer brannte Licht. Die tiefhängende Lampe mit ihrem billigen, rosafarbenen Schirm beleuchtete den Toten auf dem Bett. Es war ein kleines Zimmer, eher eine Kammer, mit einem einzigen, hoch angebrachten Fenster, durch das man höchstens den Himmel sehen konnte. Die Einrichtung bestand aus einem Bett, einem Stuhl, einem Nachtschränkchen und einer niedrigen Kommode mit einem Spiegel darüber, die als Frisiertoilette diente. Auch dieser Raum war peinlich sauber, was den Anblick des blutbesudelten Toten auf dem Bett noch grauenhafter machte. Die klaffende Halswunde mit den

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