Vorsatz und Begierde
der Flaschenöffner lagen daneben. Auf dem Abtropfbord trockneten zwei säuberlich gespülte, umgedrehte Weingläser.
»Zwei Weingläser«, sagte Rikkards. »Beide gespült. Von ihr oder ihrem Mörder. Fingerabdrücke werden wir da nicht finden. Und eine geöffnete Weinflasche. Sie muß heute abend mit irgend jemand Wein getrunken haben.«
»Wenn das stimmt, muß sich dieser Jemand aber sehr zurückgehalten haben. Oder sie«, entgegnete Dalgliesh.
Rikkards hob die Flasche mit seiner behandschuhten Hand am Hals hoch und betrachtete sie. »Etwa ein Glas ist ausgeschenkt worden. Vielleicht wollten sie die Flasche nach ihrem Bad im Meer zu Ende trinken.« Er musterte Dalgliesh. »Sie waren doch nicht etwa schon mal hier, Mr. Dalgliesh? Das muß ich jeden fragen, den sie näher kannte.«
»Verstehe ich. Nein, ich bin hier noch nie gewesen. Ich habe zwar heute abend Rotwein getrunken, aber nicht mit ihr.«
»Schade. Dann wäre sie noch am Leben.«
»Nicht unbedingt. Ich könnte ja das Haus verlassen haben, bevor sie sich zum Schwimmen umzog. Und wenn heute abend irgend jemand bei ihr war, hat er vielleicht das gleiche getan.« Er zögerte, dachte kurz nach und sagte dann: »Das linke Glas ist am Rand leicht angeschlagen.«
Rikkards hielt es gegen das Licht und drehte es hin und her.
»Ich wünschte, ich hätte so scharfe Augen wie Sie. Aber das wird uns wohl kaum weiterhelfen.«
»Viele Menschen trinken ungern aus einem angeschlagenen Glas. Ich auch.«
»Warum hat sie es dann nicht ausgesondert? Es ist doch sinnlos, ein Glas zu behalten, aus dem man nicht trinken möchte. Wenn ich mit zwei Möglichkeiten konfrontiert werde, beginne ich mit der wahrscheinlicheren. Zwei Gläser – folglich müssen zwei Leute getrunken haben. Das ist für mich die vernünftigste Erklärung.«
Und die Grundlage nahezu der gesamten Fahndungsarbeit, dachte Dalgliesh. Nur wenn sich das offensichtlich Vernünftige als unhaltbar erwies, mußte man minder wahrscheinliche Annahmen ausloten. Aber das konnte auch der erste fatale Schritt in ein Labyrinth von trügerischen Überlegungen sein. Er fragte sich, wieso ihm sein Instinkt signalisierte, daß sie allein getrunken habe. Vielleicht, weil sich die Flasche in der Küche befand und nicht im Wohnzimmer. Der Wein war ein 79er Château Talbot, also kein namenloser Fusel. Wäre es nicht stilvoller gewesen, ihn im Wohnzimmer zu genießen? Wenn sie andererseits jedoch allein im Haus gewesen war und vorm Schwimmen nur schnell einen Schluck hatte trinken wollen, hätte sie derlei wohl kaum bekümmert. Und wenn sie mit irgend jemand in der Küche getrunken hatte, mußte sie schon eine Ordnungsfanatikerin gewesen sein, weil die Stühle akkurat unter den Tisch geschoben waren. Doch was am meisten für seine Vermutung sprach, war die verbliebene Weinmenge. Wer würde schon eine Flasche öffnen, um nur ein paar Tropfen in zwei Gläser zu gießen? Allerdings konnte das auch darauf hindeuten, daß sie noch einen Besucher erwartet hatte, mit dem sie die Flasche leeren wollte.
Rikkards musterte immer noch Flasche und Etikett.
»Wann haben Sie die Mühle verlassen, Mr. Dalgliesh?« fragte er.
»Gegen Viertel nach 9. Ich warf einen Blick auf die Kaminuhr und verglich sie mit meiner Armbanduhr.«
»Und Sie haben während Ihres Spaziergangs niemand gesehen?«
»Niemand. Ich habe nur ihre und meine Fußabdrücke bemerkt.«
»Was wollten Sie heute abend überhaupt am Strand, Mr. Dalgliesh?«
»Frische Luft schnappen. Nachdenken.« Am liebsten hätte er noch hinzugefügt: »Und mit bloßen Füßen im Wasser waten«, aber das verkniff er sich.
»Frische Luft schnappen und nachdenken«, wiederholte Rikkards zweifelnd.
Für Dalglieshs feine Ohren hörte sich das an, als wären solche Tätigkeiten höchst bedenklich. Er überlegte, was Rikkards wohl erwidern würde, wenn er ihm anvertraut hätte:
»Ich habe über meine Tante nachgedacht und über die Männer, die sie geliebt haben, über ihren Verlobten, der 1918 fiel, über den Mann, dessen Geliebte sie vielleicht einst gewesen ist. Ich habe über die vielen Menschen nachgedacht, die diesen Strand entlanggewandert sind, die längst tot sind wie meine Tante. Darüber, wie mich als Jungen die verlogene Rührseligkeit in dem dümmlichen Gedicht über die Helden, die ihre Spuren im Sand der Zeit hinterlassen, angewidert hat. Denn im Grunde können wir alle bestenfalls eben das hinterlassen, vergängliche Spuren, die die nächste Flut verwischt. Ich habe
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