Vorstandssitzung im Paradies
brauchen.«
»Stellen wir uns mal vor, wir bleiben hundert Jahre auf dieser Insel. Es würde ein Stamm entstehen, dann ein Volk… siegt da nicht schließlich doch der europäische Kapitalismus?«
Reeves dachte eine Weile nach. Dann sagte er: »Das könnte möglich sein, da wir Stammväter aus Europa kommen. Wir würden vermutlich unseren Kindern von den europäischen Verhältnissen erzählen, und wenn dann die Produktion wachsen würde, bliebe über die Grundbedürfnisse hinaus Überschuss zum Verteilen, zum Raffen… aber wenn wir ein Naturvolk wären, würde meiner Meinung nach kein Widerspruch entstehen. Fast alle Naturvölker leben nach dem Prinzip der gleichmäßigen Verteilung, und die Menschen dort kümmern sich umeinander.«
Er fügte noch hinzu:
»Wenn ich wieder nach England komme, werde ich dort von diesem Lager berichten. Es ist eine wirklich interessante Erfahrung.«
Ich fragte ihn, ob Robinson Crusoe seiner Meinung nach ein Sozialist gewesen sei.
»In gewisser Weise. Er hat sein Hab und Gut und sei ne Fähigkeiten mit Freitag geteilt. Aber er war wohl trotzdem der Herr auf seiner Insel, und Freitag war, außer sein Gefährte, auch sein Gehilfe… die Art und Weise, in der Robinson diese Beziehung führte, war doch ein wenig feudalistisch. Aber er war allein auf die Insel gekommen, Freitag kam später. Die beiden waren quasi eine Familie, wir sind ein Stamm. Wenn hier eines Tages so ein Robinson anmarschiert käme, würde er mit uns wohl kaum so problemlos leben können wie mit Freitag. Man würde ihn nicht so ohne weiteres zum Stammeschef ernennen.«
»Die schwarze Hebamme würde ihn zur Arbeit einteilen.«
»Bestimmt. Und ich denke, er würde nicht widersprechen. Er war immerhin ein kluger Mann.«
32
Die Rodung des letzten großen S erwies sich als vergleichsweise leicht: Nach Ende der Regenzeit peinigten die Insekten uns schwitzende Bäumefäller nicht mehr so frech, und außerdem empfanden wir die Hitze nicht mehr als so unangenehm.
Gut möglich, dass auch der Sonnenschein, der bis auf den Arbeitsplatz drang, zusätzlich aufmunternd wirkte. Wie dem auch sei, für den letzten Buchstaben brauchten wir nur einen Monat und drei Tage.
Mir fiel auf, dass Maj-Len immer trauriger wurde, je weiter die Arbeit voranschritt. Anfangs begriff ich nicht, was los war, aber als wir den letzten Bogen des S machten, es war unsere vorletzte Arbeitswoche, erkannte ich den Grund für ihre Schweigsamkeit und Traurigkeit, die mich ein wenig beunruhigt hatten.
Jetzt im Nachhinein glaube ich, dass Maj-Len mit Taylor über ein Verbleiben auf der Insel gesprochen hatte. Ich selbst hatte nicht gewagt, mich über meine Absichten – sofern sie denn klar waren – zu äußern, aber Taylor hatte, trotz unserer Vereinbarung, anscheinend das Bedürfnis gehabt, seine Meinung über die vorhandene oder nicht vorhandene Notwendigkeit der Rodungsarbeiten kundzutun.
Nach Fertigstellung der Buchstaben spitzte sich die Situation dermaßen zu, dass sich das Lager in zwei Gruppen aufspaltete und das geplante Fest alles andere als harmonisch verlief.
Nachdem wir das letzte S in Rekordzeit fertig gestellt hatten, veranstalteten wir, treu unserer Gewohnheit, ein gemeinsames Fest, ein Richtfest zu Ehren unserer gelungenen monatelangen Anstrengungen.
Schon zwei Wochen zuvor hatten die Frauen – die derzeit für die Alkoholherstellung zuständig waren – reichliche Mengen Kokosschnaps gebrannt. In der Freizeit hatten wir neue Trinkbecher geschnitzt, und das bevorstehende gemeinsame Fest war abends auf den Balkonen das beherrschende Thema gewesen, ganz ähnlich wie in den Büros der großen finnischen Konzerne die alljährliche Weihnachtsfeier, auf der die Firma ein paar Drinks und Schinkenbrote spendiert.
Aber durchaus nicht alle waren in Feierstimmung. Am Morgen des Festtages, als uns gerade unser Affe weckte, hörte ich, wie jemand von unten an den Balkon klopfte. Ich ahnte, dass Taylor gekommen war, denn ich kannte seine Art, beim Gehen die Füße anzuheben, um Rascheln zu vermeiden, wobei er aber dennoch tapsende Geräusche verursachte.
Taylor klopfte eine Weile und sagte dann: »Maj-Len, könntest du bitte deinen Mann aufwecken.« Maj-Len nahm den Affen auf den Arm, warf sich ihren Umhang über, den sie sich aus dem Stoff der Rettungswesten genäht hatte, und ging dann auf den Balkon, um die Leiter herunterzulassen. Ich hörte ein Getuschel, und kurz darauf verdunkelte sich die Türöffnung, als Taylor eintrat.
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher