Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
Wozu brauchen sie mich?«
Er sah sie nachdenklich an. »Das Nahen des Sonnenvolkes hat die Spirale verändert.«
»Die Spirale?«
»Kreise innerhalb von Kreisen, ohne Ende, ohne Anfang. Die Spirale ist die Welt. Pflanzen wachsen in der Erde. Manche Tiere fressen Pflanzen. Raubtiere fressen die Tiere, die Pflanzen fressen. Menschen essen Tiere und Pflanzen. Sterben Menschen und Raubtiere, kehren ihre Körper zur Erde zurück.
Könnten die Pflanzen wachsen, wenn die Körper der Lebewesen die Erde nicht nähren würden?
Würden die Tiere leben, wenn sie nicht die Pflanzen essen könnten? Wo fängt alles an? Wo hört alles auf? Die Spirale entspricht allem, was ist und nicht ist. Wann beginnt die Seele? Wann hört sie auf?
Die Mächte durchlaufen die Spirale. Der Erste Mann tanzt in der Spirale. Das Wolfsbündel singt in der Spirale. Die Spirale ist das Große Eine.«
»Alles, was ist und nicht ist.« Diese Worte verfolgten sie.
»Und mehr.«
»Das heben wir uns für später auf. Ich möchte mehr wissen über das Sonnenvolk. Du sagtest, dieses Volk hat die Spirale verändert.«
»Die Spirale ist Bestandteil dieser Welt und ist es nicht.« Singende Steine machte eine allumfassende Gebärde. »Stell sie dir vor wie die Spiegelung in einem Teich. Ist die Spiegelung Teil des Wassers oder Teil des Lichts? Sobald ein sanfter Wind das Wasser bewegt, verzerrt sich das Spiegelbild und zerfällt in Fragmente. Tauchst du einen Finger in das Wasser, verändern die dabei entstehenden zarten Wellen das Spiegelbild. Dieselbe Auswirkung hat das Nahen des Sonnenvolks auf die Spirale. Dieses Volk schickt kleine, sich kräuselnde Wellen durch die Spirale, weil es das Große Eine nicht kennt.«
»Aber wenn alles Teil des Großen Einen ist, dann muß auch das Sonnenvolk dazugehören.«
Mit einem weisen Lächeln hob er sein Gesicht der Sonne entgegen. »Du hast recht. Das Sonnenvolk ist Teil des Großen Einen … aber dieses Volk weiß es nicht, sondern läßt sich von der Illusion blenden.
Es lebt abgetrennt vom Großen Einen. Als du beim Sonnenvolk lebtest, wie oft hörtest du die Menschen vom Großen Einen sprechen? Wie oft sprachen ihre Träumer vom Großen Einen? Wie oft verließen sie das Lager, um auf hochgelegenen Orten Visionen zu suchen?«
Ihre Augen wurden schmal. »Sie bleiben in ihren Zelten und schicken ihre Seelen zum Lager der Toten hinauf. Von dort holen sie ihre Macht. Sie suchen ihre Macht bei den Seelen der Toten.«
Er verzog keine Miene. »Das Sonnenvolk ist neu in diesem Land. Es ist ein junges, tatkräftiges Volk.
Du hast unter diesen Menschen gelebt. Wann fühltest du zum erstenmal das Große Eine?«
»Bei Leuchtender Monds Tod.«
»Und davor? Kanntest du da schon das Große Eine? Oder nur die Illusion?«
Sie schüttelte den Kopf. »Auch als ich noch beim Erdvolk lebte, hörte ich den Ruf des Großen Einen nicht. Dieses Volk hat dem Ersten Mann den Rücken gekehrt, wurde abtrünnig.«
»Das stimmt.« Singende Steine nickte leicht. »Für das Erdvolk ist auch das Große Eine nur eine Illusion. Es hat die Spirale vergessen, von der Feuertänzer erzählt hat. Du und Stilles Wasser, ihr seid dem Großen Einen auf verschiedene Weise nahe. Es liegt in der Natur von Stilles Wassers Seele, daß sie die Reflexionen des Großen Einen unwillkürlich fühlt. In deiner Natur liegt es zu träumen. Die Macht kennt dich, Weiße Esche. Du bist eine Brücke zwischen den Welten… wie ein umgestürzter Baumstamm, der einen reißenden Fluß überbrückt. Du berührst beide Ufer.«
»Woher weißt du das alles? Ich fühle mich fast hilflos.«
Er lächelte seine Schülerin mit strahlenden, unergründlich tiefen und ewig braunen Augen an.
»Träumer sind so verschieden wie andere Leute auch.« Er preßte seine Hände aneinander. »Ich will dir etwas erzählen. Als ich jung war, fühlte ich das Große Eine während meiner Träume. Die Anführerin meines Stammes sagte mir, ich solle Heiler werden. Im Laufe der Jahre wuchs meine Macht. Eines Tages brachte Schilfrohr bei der Großen Versammlung das Wolfsbündel zu uns. Ich hob es auf und fühlte seine Macht. In jener Nacht träumte ich vom Sonnenvolk und von der Zukunft. Ich verließ mein Volk, kam hierher und lernte zu träumen.«
Er verstummte und versank in Erinnerungen. »Als ich das Wolfsbündel berührte, öffnete sich eine Tür in meinem Geist. Da wußte ich, was die Macht wollte. Ich träumte vom Ersten Mann, der mit dem Feuer tanzte, und er zeigte mir den Weg nach
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