Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
volle schwarze Haar.
»Ich weiß nicht. Eine Hälfte von mir ist mit ihm gestorben, Kranker Bauch. Ich bestehe nicht mehr aus einem Stück. Ich fühle mich wie… wie ein Schatten.«
Er stopfte sich das letzte Stück Kuchen in den Mund und stimmte ihr kauend zu: »Ja, ich verstehe, was du meinst. Er war mein einziger Freund. Auch ich fühle mich ohne ihn verloren. Er hat mich verstanden.«
Rosenbusch versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Sie wandte die Augen ab. »Ich weiß, es ist schwer für dich. Großmutter ist… na ja…« Schützend preßte er seinen verkrüppelten Arm gegen seine Brust. »Sie weiß nicht, was sie mit mir anfangen soll. Ich bin für sie nur eine Last.« »Es ist nicht gut für dich, wenn du dir ständig Vorwürfe machst, Kranker Bauch. Seit du aus Goldener Flachs' Lager zurückgekommen bist, warst du nie mehr wie früher. Großmutter wußte nicht… ich meine, sie wollte das Beste. Sie konnte nicht wissen, daß Goldener Flachs so viele Schwierigkeiten machen würde.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Was? Bist du etwa nicht der Meinung, daß zwei Krüppel ein Ganzes ergeben?«
Rosenbusch stieg die Röte ins Gesicht. Unruhig zupfte sie an den Fransen ihres Rocksaums.
»Goldener Flachs ist kein Krüppel. Du darfst nicht so über sie sprechen.«
»Meine liebe Schwester, Krüppel gibt es in allen Variationen. Sieh mich an. Ich bin leicht als Krüppel zu erkennen, du brauchst nur…« »Ich bitte dich, Kranker Bauch.«
»… meinen Arm anzusehen, und du weißt Bescheid. Bei Goldener Flachs ist das anders sie ist ein Seelenkrüppel, wenn du so willst. Du weißt, das Volk verzeiht keiner Frau die Blutschande, besonders dann nicht, wenn sie mit dem eigenen Vater begangen wird.«
Rosenbusch erbleichte und warf einen raschen Blick auf Lupine, um sich zu vergewissern, daß die Kleine tief und fest schlief. »Sag das nicht. Du weißt genau, sie konnte nichts dafür. Er hat sie vergewaltigt. Wie soll sich ein kleines Mädchen gegen den Vater wehren? Sie begriff gar nicht, was vor sich ging.«
Kranker Bauch warf noch etwas Holz in das Feuer. Er sah zu, wie sich die knisternden Flammen durch die trockenen Blätter und dürren Zweige fraßen. »Nein, es war nicht ihre Schuld. Aber in den Augen unseres Volkes ist sie für immer besudelt. Es spielt keine Rolle, ob sie es wollte oder nicht, es ist nun einmal geschehen. Sie ist befleckt, und niemand wird das je vergessen am allerwenigsten sie selbst.«
»Ich verzeihe ihr nie, daß sie dich hinausgeworfen hat.«
Kranker Bauch starrte ins Feuer. Er erinnerte sich an den erbärmlichen Tag nach der noch erbärmlicheren Nacht. Noch keine drei Wochen war er im Lager des Weißen-Sandstein-Stammes gewesen, als Goldener Flachs ihn fortgeschickt hatte. Die Verzweiflung in ihren gequälten Augen ließ seiner Seele noch immer keine Ruhe. Er hatte seine Sachen zusammengepackt und das Lager noch am selben Nachmittag trotz des Unwetters verlassen.
»Du darfst Goldener Flachs nicht verurteilen. Sie konnte nichts dafür. Sie saß ebenso in der Falle wie ich. Man hatte uns einander aufgezwungen, weil wir einander ebenbürtig waren. Gab es eine bessere Lösung, als zwei überflüssige Menschen zusammenzuspannen? Wer weiß, vielleicht mögen sie sich sogar, und das ergibt dann zwei ungeliebte Menschen, die einander gern haben. Ist doch ganz schlau gedacht.«
»Bitte hör auf, ich bin bereits traurig genug. Mir reicht es.«
Er holte tief Luft. »Wahrscheinlich denkst du, ich wäre wütend und undankbar. Aber das stimmt nicht, zumindest jetzt nicht mehr. Im Laufe der Zeit haben sich meine Gefühle verändert. Inzwischen betrachte ich diese Ehe als einen grausamen Scherz, an dem niemand schuld hat. Vielleicht ergibt sich bei der Großen Versammlung die Gelegenheit, ihr wieder nahezukommen, so daß wir Freunde sein können.«
Rosenbusch legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. »Du verzeihst allen und jedem, nicht wahr? Wahrscheinlich verzeihst du sogar der Klapperschlange, die deinen Arm auf dem Gewissen hat.«
Er lächelte. »Vermutlich. Weißt du, ich muß immer daran denken, in welche Probleme die Menschen verwickelt sind. Ich überlege, aus welchen Beweggründen sie handeln. Wahrscheinlich sind sie ebenso verloren und verletzt wie ich selbst.«
»Meinst du, Großmutter fühlt sich verletzt? Ich glaube nicht, daß sie sich jemals von irgend jemandem wegen irgend etwas hat kränken lassen.«
Er stützte das Kinn auf seine gesunde Hand. »Hast du
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