Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
ihr reden kann.«
Der Zopf sang weiter sein Lied. Es klang mehr und mehr wie ein im Unkraut sitzender Schwarm Heuschrecken, die ihre Beine rieben. »Ja, die Felsen sagen, das stimmt. Aber damit dir das gelingt, mußt du dich erst von deinem Menschenwesen lösen. Dann erst kannst du zu einer Schlange werden, die in der dunklen Unterwelt lebt, und zu einem Falken, der in das strahlende Licht des Himmels emporsteigt. Wenn du alle drei Welten in dir vereinen kannst - Schlange, Vogel und Mensch -, läßt dich die Erste Frau in ihre Höhle ein.«
»Ja, schon … aber … ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Kann Vogelmann nicht kommen und mir dabei helfen?« Die hochgezogenen buschigen grauen Augenbrauen Wanderers stießen aneinander, so konzentriert lauschte er den Stimmen. »Die Felsen sagen, er habe dich nie verlassen.«
»Wo ist er denn?« Argwöhnisch blickte sich Flechte um, suchte zwischen den dunklen Felsrissen nach der winzigsten Spur einer schimmernden Schlangenhaut oder dem Flattern einer Feder.
Wanderer nahm den Haarstrang vom Felsen und rollte ihn in aller Ruhe zusammen. »Sie sprechen nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wollen es mir nicht sagen?«
»Vielleicht erlaubt Vogelmann es nicht. Außerdem wissen auch Felsen nicht alles, obgleich sie, wenn es die Menschen am wenigsten vermuten, genau zuhören und sehr viel Wissen in sich aufnehmen.«
Flechte schielte durch den Spalt über ihrem Kopf zum Himmel hinauf. Ein Wolkenbausch zog vorbei.
Er war an den Rändern bereits in tiefes Rosa gefärbt. »Wir müssen gehen, Wanderer. Die Sonne geht bald unter. Wir dürfen nicht zu spät zur Zeremonie kommen. Meine Mutter hat fast den halben Tag gebraucht, bis sie die Leute im Dorf davon überzeugt hat, daß du kommen kannst.«
Seine Miene verfinsterte sich. Er blickte auf den Zopf hinunter. »Es war nett von Wühlmaus, die Leute zu fragen. Und nett von dir, Flechte, mich zu fragen.«
Liebevoll tätschelte sie seinen Arm und kroch zwischen den Felsen hindurch in das schwindende Tageslicht. Vater Sonnes purpurrotes Gesicht stand eine Handbreit über dem Horizont. In der rot gefärbten Abendstille näherten sich Stimmen den Hang herauf leise, ehrfurchtsvolle Stimmen, als verwandle das Nahen der Zeremonie die Welt in etwas so Zartes und Zerbrechliches wie eine Pflaumenblüte und als müsse man sie deshalb entsprechend behandeln.
»Was habt ihr, du und die Buben, hier oben gemacht?«
»Fangen gespielt. Aber dann guckte Schleiereule von oben auf den Platz, auf dem sich die Frauen für die Zeremonie bemalten. Ich sagte, das dürfe man nicht, und wir begannen zu kämpfen.«
Wanderers Mund verzog sich wie das Leder eines Beutels, dessen Schnur straffgezogen wird.
»Schlechtes Blut! Nun, ich bete trotzdem darum, die Mächte mögen ihm gegenüber Milde walten lassen.«
»Milde?«
»Ja. Die Mächte rächen sich stets an den Menschen.«
Bei dem Gedanken, wie sich die Mächte wohl an Schleiereule rächen würden, regte sich in Flechtes Magen ein leichtes Kitzeln.
Wanderer klemmte die Maske unter einen Arm und trat neben sie. Nebeneinander gingen sie den Pfad hinunter, der sich zwischen den mit Kletterpflanzen bewachsenen Steinen nach Redweed Village schlängelte. In der kühlen Abendluft begann Flechte zu frösteln. Wanderer bemerkte es. Er breitete seinen Kaninchenfellumhang aus und ließ sie darunter schlüpfen.
»Wanderer«, fragte sie, »was soll ich nur tun? Ich meine, wie soll ich lernen, in die Höhle zu gelangen?«
»Willst du denn hinein?«
»Ich muß hinein. Vogelmann sagte, sonst würde die Erste Frau die Welt im Stich lassen und wir müßten alle sterben.« Sie blickte in dieses schmale, von widerspenstigen grauen Haaren eingerahmte Gesicht. Sie war sich nicht ganz sicher, ob er sie ernst nahm. Meistens machten sich die Erwachsenen über sie lustig, wenn sie ihnen von Vogelmanns Besuch erzählte. Sogar ihre Mutter lachte sie deshalb aus.
»Nun«, erwiderte er, »ich glaube, wir brauchen nichts weiter zu tun, als dir beizubringen, wie du dich in eine Schlange und in einen Falken verwandeln kannst. Dann kannst du dich auf die Suche nach Vogelmann begeben.«
»Muß ich dafür meine menschliche Seele aufgeben, so wie du?«
»Ja, zumindest eine Zeitlang.«
Bei diesen Worten griff Flechte erschrocken nach seinem Hirschlederärmel und hielt sich daran fest.
Ihr Herz hämmerte heftig gegen ihre Rippen. »Wanderer!«
»Ja, Flechte?«
»Und wenn ich Angst habe?«
Er
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