Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
Meinung? Wer ist dafür, daß wir noch warten?«
Dumpfes Stimmengemurmel verbreitete sich im Raum. Hagelwolke mahlte zornig mit den Zähnen.
Dummköpfe! Die Männer und Frauen steckten die Köpfe zusammen und schwatzten miteinander.
Einige nickten nur, andere hoben beifällig die Fäuste und schüttelten sie wütend.
Wann gelangten sie endlich zu einer Entscheidung? Sehnsüchtig blickte Hagelwolke durch das große Loch in der Westwand. Am nachtblauen Himmel zogen Wolkenstreifen dahin, leuchtend wie polierter Bleiglanz. Die langsam im Westen versinkende Mondjungfrau ließ die Schatten der Bäume wie schwarze, filigrane Ranken über das Land wandern. Er wollte nicht kämpfen; niemand, der noch seine halbe Seele besaß, wollte kämpfen. Aber ihnen blieb keine andere Wahl. Sie mußten Dachsschwanz' Streitmacht noch vor dem nächsten Mond des Fliegenden Schnees auslöschen. Mit einer guten Maisernte zu rechnen, wäre Leichtsinn, denn schon machten sich die ersten Anzeichen ungewöhnlicher Hitze und ausbleibenden Regens bemerkbar. Hagelwolke bezweifelte, daß noch jemand das kommende Frühjahr erleben würde, wenn die Ernte in diesem Zyklus wiederum so schlecht ausfiel. Jetzt müssen wir handeln.
Seetaucher, mit zweiundsechzig Sommern der älteste Mann des Dorfes, fragte mit lauter Stimme:
»Falls wir uns für eine Beteiligung an dieser Armee entscheiden, wer wird sie führen?«
Petaga sah allen Angehörigen des Rates nacheinander in die Augen. Schließlich deutete er mit der Hand in Richtung Tür. »Hagelwolke. Er hat Seite an Seite mit Dachsschwanz gekämpft - und er hat gegen ihn gekämpft. Er kennt Dachsschwanz' Schwächen genau.«
Das Vertrauen Petagas bereitete Hagelwolke Unbehagen. Sein Magen verkrampfte sich. Kannte er Dachsschwanz' Schwächen? Er suchte in seiner Seele nach einem Beweis für diese Behauptung. Ja, in gewisser Weise traf das zu, wahrscheinlich kannte er sie; doch im Augenblick fiel ihm nicht die geringste seiner Schwächen ein.
»Hagelwolke, was hast du mit den Dörfern vor, die sich uns nicht anschließen?« Die alte Regenbogenfrau sah ihn mit einem scharfen Funkeln in den Augen herausfordernd an. »Sie erfahren von unseren Plänen, denn schließlich müssen wir mit ihnen reden. Wie gehen wir vor, wenn sie sich uns nicht anschließen? Wie versichern wir uns ihres Stillschweigens?«
Nachdenklich blickte Hagelwolke auf die Rußflecken am Dach an den Stellen, wo die brennenden Pfeile eingeschlagen hatten. »Diese Entscheidung ist nicht Sache eines Kriegers, Großmutter. Ich werde tun, was immer die Alten beschließen.«
Aber er konnte die Entscheidung auf den wie aus Stein gemeißelten Gesichtern ablesen. Unter ihren harten Blicken stockte ihm fast der Atem.
Das fahle Licht der langsam tiefer sinkenden Mondjungfrau breitete die Schatten der Hügel über das Dorf. Das Schimmern der Gras- und Schilfdächer erlosch, nachtschwarze Dunkelheit senkte sich über Heuschreckes Haus. Darauf bedacht, Primel nicht zu wecken, stützte sie vorsichtig das Kinn auf die Hände und spähte zum Himmel hinauf. Ihr Bett aus Fellen und Decken befand sich auf einem erhöhten Podest knapp unterhalb des Daches. Durch den Luftschlitz in der Wand konnte sie auf das Treiben draußen blicken. Wolkenfetzen zogen am bleigrauen Himmel dahin und leuchteten bleich im schwindenden Mondlicht.
Obwohl ihr erschöpfter Körper dringend nach Ruhe verlangte, konnte sie nicht schlafen. Ständig standen ihr die Bilder dieses Kampfganges vor Augen. Wieder sah sie Dachsschwanz' von Qual gezeichnetes Gesicht, als sein Blick auf seinen toten Bruder fiel. In diesem Moment war die Flamme in seinen Augen erloschen - als sei mit Rotluchs auch ein Teil von ihm selbst gestorben. Heuschreckes Seele empfand einen tiefen brennenden Schmerz. Wem konnte sich Dachsschwanz nach Rotluchs' Tod anvertrauen? Von wem durfte der große Kriegsführer Trost empfangen? Sie war zwar seine beste Freundin, doch sein Leid würde er vor ihr zu verbergen suchen. Er würde niemanden an seinem Kummer Anteil nehmen lassen. Nach Rotluchs' Tod war er wahrhaft allein.
Heuschrecke legte den Kopf auf Primels muskulösen Arm und sah ihn an. Die tiefliegenden Augen und der zarte Knochenbau verliehen seinem Gesicht etwas Zerbrechliches und Unschuldiges.
Schimmernd flössen seine sauberen Haare über die Decken wie Wellen aus pechschwarzer Seide.
Zärtlich streckte sie die Hand aus und strich über die glänzende Fülle.
»Schläfst du immer noch nicht?« flüsterte
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