Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Mammutherden zu sehen, die die Küste entlanggewandert waren.
Er konnte Staub riechen und ihr Stampfen hören. Staub, Stampfen und das Trompeten von Mammuts.
Wo die Meeresbrise den Dunstschleier aufriß, hoben sich wütend trompetende Rüssel. Jäger tauchten im Staub auf und verschwanden wieder.
Das Blut seiner Jugend pulsierte in Melisses Adern, als er mit wurfbereit in den Atlatl eingelegtem Speer losstürmte, um ein von der Herde abgekommenes Kalb zu verfolgen. Mit seinem Geist-Lied auf den Lippen war er vorgeprescht, ohne sich vor den Bullen zu fürchten, die ihn beobachteten. Ihre Rüssel glänzten im leuchtenden Sonnenlicht. Auch andere Jäger sangen. Sie alle liefen, um die Herde einzukreisen.
Melisse schrie: »Werft!«, und ein Speerhagel durchdrang die warme Sommerluft. Die Speere flogen im Bogen nach oben und kamen dann in einem Schauer glitzernder Feuersteinspitzen wieder herab.
Freudenrufe vermischten sich mit dem Gebrüll verwundeter Tiere. Melisse warf wieder und wieder.
Um ihn herum rannten bemalte Jäger, laute Schreie ausstoßend, durch die in alle Richtungen davonstürmende Herde und töteten genug Mammuts, um ihr Volk den ganzen Winter über zu ernähren.
Was für ein guter Traum. Wie der Duft einer weit geöffneten Blüte erfüllte ihn die Erinnerung an die Tage, als er einer der größten Jäger seines Volkes gewesen war und es so viele Mammuts gegeben hatte, daß man sie nicht zählen konnte. Niemand war damals verhungert. Es hatte keine Krankheiten gegeben, die monatelang wie ein reißender Wolf durch die Dörfer schlichen.
Viele Winter hatte Melisse zusehen müssen, wie die Zahl der Mammuts schwand; nur ein paar sich mit gequältem Blick elend dahinschleppende Tiere waren übriggeblieben. Seit sechs langen Jahresumläufen hatte er kein Mammutsteak mehr gegessen, und er hatte eine wahnsinnige Lust darauf.
Fröstelnd rieb Melisse sein schmerzendes linkes Knie. »Mutter Ozean!« rief er. Er hatte keine Zähne mehr, und seine Worte klangen immer ein bißchen undeutlich. »Ich habe gefühlt, wie du meine Seele hierher gezogen hast. Sag mir, was du brauchst. Schicke mir ein Zeichen.«
Sumach schwieg und ließ ihn allein mit der Mutter sprechen, drückte jedoch seine Hand fester und warf einen kurzen Blick über die Schulter auf ihr Zelt im Dorf. Sie machte sich Sorgen um ihre drei Enkel, die beiden Jungen und das kleine Mädchen. Hungrige Säbelzahntiger waren im vergangenen kalten Mond in der Nähe des Dorfes herumgeschlichen, um vielleicht ein Kind zu erbeuten. Bergsee, Balsam und Berufkraut lebten bei ihnen, seit ihre Mutter bei der Fieberepidemie vor zwei Jahresumläufen gestorben war. Singendes Moos war Melisses und Sumachs letztes lebendes Kind gewesen, und die Trauer über ihren Tod hatte Sumach fast das Leben gekostet.
Melisse erwiderte Sumachs Händedruck und richtete seine schwach gewordenen Augen auf die schwarze, weite Fläche des Wassers. Er kannte die Mutter. Mit dem Kanu war er weit hinausgefahren, hatte ihr Lieder gesungen und ihre vielen Farben betrachtet. Sie ähnelte einer geflickten, alten Lederhaut, war an manchen Stellen durchgescheuert und an anderen, die in kalten, stürmischen Nächten nahe an den Körpern der Erdgeister gelegen hatten, dunkel, fast schwarz. Als jugendlicher Draufgänger war Melisse mit dem Kanu so weit hinausgefahren, bis er kein Land mehr sehen konnte.
Die Mutter spielte solch wagemutigen Männern Streiche. Sonnenlicht geisterte in kleinen Wellen über die Oberfläche des Wassers und ließ Inseln erscheinen, die gar nicht existierten, oder es zog den Nebel in einem goldenen Wirbel nach oben. Zu solchen Männern sprach die Mutter mit weicher, gedämpfter Stimme. Und wenn es ihr gefiel, so geleitete sie sie zum Land zurück. Oft gefiel es ihr nicht. Melisse hatte viele Freunde an Mutter Ozean verloren.
Doch niemals vergaß ein Mann den Klang ihrer Stimme, wenn er ihn einmal gehört hatte. Und die Mutter hatte gestern bei Sonnenuntergang begonnen, mit ihm zu sprechen, hatte ihn gerufen und verlangt, daß er sich an ihrer Seite niedersetze.
Der Geruch von verrottendem Seetang und Fisch wurde stärker, als der Morgen sich näherte. Melisse atmete tief ein und seufzte: »Ich bin müde, Sumach.«
»Nur noch ein bißchen«, bat sie. »Wenn die Mutter dir bis zum Sonnenaufgang kein Zeichen geschickt hat, gehen wir zurück.« Sie zögerte, dann fragte sie: »Denkst du, es hat etwas mit Sonnenjäger zu tun?«
»Ich weiß es nicht.«
Melisse legte
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